Jedes Jahr erleiden rund 1.800 Menschen in Deutschland eine Querschnittlähmung. Für die Betroffenen geht in der Regel von einer Sekunde auf die andere ein entscheidender Teil ihrer Gehfähigkeit und damit ein großes Stück an Selbstständigkeit verloren. Klar ist: Jede Möglichkeit, wieder besser gehen zu können, stellt einen wesentlichen Gewinn an Lebensqualität dar und erleichtert den Wiedereinstieg ins Berufs- und Privatleben. Bislang konnten Betroffene das Gehen nur an Großgeräten in Kliniken und Rehazentren üben. Jetzt gibt es erstmals einen Roboter für das Gangtraining zu Hause. (Newsletter 56 / März 2012)
Ein Proband beim Training mit dem Gangroboter MoreGait.
Mehr als ein Jahr ist es her, aber die Bilder des tragischen Unfalls haben sich Vielen von uns ins Gedächtnis gebrannt: In der Fernsehsendung „Wetten dass ...?“ versuchte Samuel Koch mit Sprungfedern ein heranfahrendes Auto zu überspringen. Er stürzte. Später wurde bekannt, dass sich der junge Mann eine nahezu komplette Verletzung des Rückenmarks im Halsbereich mit Verlust seiner Geh- und Greiffunktion zugezogen hat. „Jedes Jahr erleiden etwa 1.800 Menschen in Deutschland so wie Samuel Koch eine Querschnittlähmung. Bei etwa 60 Prozent der Querschnittgelähmten bleiben allerdings noch ausreichend Nervenfasern im Rückenmark funktionsfähig, die neue Aufgaben übernehmen können“, erklärt Dr. Rüdiger Rupp vom Universitätsklinikum Heidelberg. Bei Menschen mit einer solchen inkompletten Querschnittlähmung sind noch Restfunktionen der Nervenfasern erhalten, die durch ein intensives Training wieder aktiviert werden können. Hierfür gibt es teure und aufwendige Maschinen, zum Beispiel Laufbänder oder Gehroboter, die aber nur in Kliniken und nicht für ein langfristiges Training zu Hause zur Verfügung stehen.
Doch einige Studien haben ergeben, dass besonders ein langfristiges, über mehrere Monate durchgeführtes Gangtraining – wie es eigentlich nur außerhalb von Kliniken gemacht werden kann – wirkungsvoll ist. „Dazu kommt, dass heutzutage der Aufenthalt in einer Rehaklinik meist aus wirtschaftlichen Gründen immer kürzer wird. Und für zu Hause existieren – abgesehen von der Krankengymnastik – kaum Trainingsangebote“, sagt Dr. Rupp. Das soll sich nun ändern. Mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) haben Prof. Dr. Eberhard P. Hofer als Projektleiter, Dr. Markus Knestel und Michael Vosseler von der Universität Ulm und Dr. Rüdiger Rupp vom Universitätsklinikum Heidelberg einen im Jahr 2010 patentierten Bewegungsroboter namens MoreGait erfunden. MoreGait steht für „Motorized orthosis for home rehabilitation of gait“ (Motorisierte Orthese für die Rehabilitation des Ganges zu Hause) und ist ein kostengünstiges, von den Patienten eigenständig zu bedienendes Gerät, das ein intensives Gangtraining zu Hause ermöglicht.
In einer ersten Studie am Universitätsklinikum Heidelberg mit 27 Querschnittgelähmten bewies der Heimtrainer seine Leistungsfähigkeit: „Nach acht Wochen Training konnten wir deutliche Fortschritte messen. Die Gehgeschwindigkeit der Patienten erhöhte sich, ihre maximale Gehstrecke verlängerte sich, unwillkürliche Muskelkrämpfe wurden weniger und die Kraft in den Beinen nahm zu“, beschreibt Dr. Rupp. Ähnliche Verbesserungen werden bisher nur mit teuren und aufwendigen Großgeräten erzielt. Besonders wichtig für einen Heimtrainer ist, dass er sicher und einfach zu bedienen ist. Dr. Rupp: „Nur eine Studienteilnehmerin entwickelte im Verlauf des Trainings eine Druckstelle am großen Zeh. Ansonsten waren alle Studienteilnehmer durchweg mit dem Training zufrieden.“
Die MoreGait-Pilotstudie wurde an chronisch Querschnittgelähmten durchgeführt, wobei die Verletzung des Rückenmarks länger als ein Jahr zurücklag. „Wir haben im vergangenen Jahr damit begonnen, die Maschine auch bei Patienten mit einer frischen Querschnittlähmung zu testen“, so Dr. Rupp. „In den ersten Untersuchungen haben wir auch hier positive Effekte beobachten können.“ Wenn sich diese Ergebnisse bestätigen, könnte der MoreGait-Roboter zukünftig auch in Krankenhäusern zum Einsatz kommen. Denn wegen der immer häufiger auftretenden multiresistenten Krankheitskeime, dürfen Patienten oftmals ihr Zimmer nicht erlassen. „Das bedeutet aber auch, dass sie an keiner Lokomotionstherapie teilnehmen können. Hier würde unser Gerät den Betroffenen eine Möglichkeit bieten, das Gehen auf ihrem Zimmer zu trainieren“, so Dr. Rupp. Neben der Studie mit akut Querschnittgelähmten planen die Wissenschaftler auch eine Studie mit Patientinnen und Patienten nach einem Schlaganfall.
Das Prinzip des Gangroboters: Die Ober- und Unterschenkel werden in einer dem natürlichen Gehen vergleichbaren Art bewegt und die Fußsohle standphasenbezogen belastet. Ein Unterschied zu den bisherigen Therapiegeräten wie Fahrradergometern ist die Krafteinwirkung. Beim MoreGait wirken die Kräfte ähnlich wie beim normalen Gehen.
Wie funktioniert der Bewegungsroboter? Dr. Rupp erläutert das Grundprinzip: „Nervenstrukturen im Gehirn und Rückenmark lassen sich nach einer inkompletten Querschnittlähmung durch wiederholte Reize von außen trainieren. Dadurch können Muskeln wieder aktiviert werden, die für das Laufen wichtig sind.“ Dabei ist es entscheidend, dass die Fußsohle belastet wird. Durch diesen Reiz lernen die Nervenzellen und organisieren sich neu. Daher mussten die Patienten bisher in aufrechter Position trainieren, was in der Regel nur unter Aufsicht möglich ist. Mit dem MoreGait-Therapiegerät können Patientinnen und Patienten nun sicher und eigenständig in halb-liegender Position trainieren. Möglich wird dies durch ein von Professor Hofer, Dr. Knestel und Dr. Rupp entwickeltes, computergesteuertes Fußteil, den sogenannten „Stimulativen Schuh“. Mit ihm kann unter anderem das Abrollen des Fußes nachgeahmt und dadurch dieser wichtige Reiz an den Fußsohlen künstlich erzeugt werden.
Wird mit dem MoreGait trainiert, wirken ähnliche Kräfte auf den Bewegungsapparat wie beim normalen Gehen. Die Gelenkbewegung wird von künstlichen Muskeln unterstützt, deren Wirkprinzip den biologischen Muskeln nachempfunden ist. „Vereinfacht gesagt, handelt es sich bei den pneumatischen Muskeln um einen Schlauch, der sich unter dem Druck eines einströmenden Mediums um bis zu 25 Prozent seiner Ausgangslänge verkürzen kann. Das ermöglicht ein sicheres Training, da die Gehbewegung der Beine durch die Nachahmung des natürlichen Muskelverhaltens besonders weich gestützt wird“, so Professor Hofer.
Ansprechpartner:
Dr. Rüdiger Rupp
Universitätsklinikum Heidelberg
Department Orthopädie, Unfallchirurgie und Paraplegiologie
Schlierbacher Landstrasse 200a
69118 Heidelberg
Tel.: 06221 96 92-30
Fax: 06221 96 92-34
E-Mail: ruediger.rupp@med.uni-heidelberg.de
Prof. Dr. Eberhard P. Hofer, Dr. Markus Knestel
Universität Ulm
Institut für Mess-, Regel- und Mikrotechnik
Albert-Einstein-Allee 41
89081 Ulm
Tel.: 08372 708-0
Fax: 0731 50-26301
E-Mail: eberhard.hofer@uni-ulm.de
markus.knestel@uni-ulm.de