Februar 2018

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Schlaganfall und Demenz – Neue Einblicke in Struktur und Funktion des Gehirns

Krankhafte Veränderungen in den kleinsten Blutgefäßen im Gehirn können Schlaganfälle und Demenz auslösen. Einem internationalen Forschungsteam ist es gelungen, das Fortschreiten dieser Gefäßerkrankungen im Gehirn zu beobachten.

Ärztin nimmt bei einer Patientin eine MRT-Untersuchung vor.

Um strukturelle Veränderungen im Gehirn bei Kleinstgefäßerkrankungen zu erforschen, nutzen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bildgebende Verfahren.

BMBF

Ist die Durchblutung in den kleinsten Blutgefäßen des Gehirns gestört, können Schlaganfälle entstehen. Zudem sind diese „Kleinstgefäß-Erkrankungen“ im Gehirn für einen großen Anteil der durchblutungsbedingten Demenzfälle verantwortlich. Man nennt sie zerebrale Mikroangiopathien. Derzeit sind die Möglichkeiten der Therapie begrenzt. „Das liegt auch daran, dass wir die Entstehung der Erkrankungen bislang nur unzureichend verstehen“, sagt Professor Martin Dichgans. Er ist Direktor des Instituts für Schlaganfall-und Demenzforschung am Klinikum der Universität München und koordinierte das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im ERA-Net NEURON geförderte europäische Forschungsnetzwerk „MESCOG“. Ziel des Forschungsnetzwerkes war, die strukturellen Veränderungen im Gehirn, die bei zerebralen Mikroangiopathien entstehen, zu erforschen.

Hierzu beobachteten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über 1.000 Menschen für einen Zeitraum von mehr als sechs Jahren – sowohl Patientinnen und Patienten mit einer seltenen angeborenen Form der Kleinstgefäß-Erkrankung im Gehirn, als auch Menschen mit der häufigen, spontanen Form der Erkrankung und Gesunde. Das Team um Dichgans untersuchte die kongnitive Leistungsfähigkeit und mögliche Veränderungen im Gehirn. Hierzu nutzen sie die Magnetresonanztomographie, kurz MRT, kombiniert mit innovativen mathematischen Auswertungsstrategien. Ganz ohne Strahlung und Radioaktivität, sondern mithilfe eines Magnetfeldes konnten die Forschenden so Veränderungen im Gehirn der Probandinnen und Probanden detailliert nachweisen.

ERA-Net NEURON: Internationale Zusammenarbeit in den Neurowissenschaften

Das ERA-Net NEURON („ERA“ steht für „European Research Area“, „NEURON“ für „Network of European Funding for Neuroscience Research“) ist ein von der EU geförderte Initiative. Mit diesem ERA-Netz möchte die Europäische Kommission gemeinsame Förderaktivitäten unter Nutzung nationaler Fördermittel befördern. Ziel von NEURON ist, die Förderprogramme und -aktivitäten von derzeit 27 Förderorganisationen aus 19 europäischen Ländern, Israel und Kanada auf dem Gebiet der krankheitsorientierten neurowissenschaftlichen Forschung zu verbinden. Die internationale Zusammenarbeit soll Synergien schaffen, das Verständnis neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen beschleunigen sowie zur Entwicklung therapeutischer Strategien und Rehabilitationsmaßnahmen beitragen. Das BMBF beteiligt sich seit 2008 an der ERA-Net-Initiative mit jährlichen Ausschreibungen. Das im Beitrag beschriebene transnationale Forschungsnetzwerk „MESCOG“ wurde vom BMBF zwischen 2012 und 2015 gefördert. Neben dem Klinikum der Universität München waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Österreich und Frankreich beteiligt. MESCOG steht für “Mechanisms of Small Vessel Related Brain Damage and Cognitive Impairment: Integrating Imaging Findings from Genetic and Sporadic Disease”.

Paradigmenwechsel in der Interpretation von Veränderungen im Gehirn

„Tatsächlich haben unsere Ergebnisse zu einem Paradigmenwechsel in der Interpretation von Veränderungen in den tiefen Hirnregionen geführt“, so Dichgans. Ein Beispiel: Zu den typischen Veränderungen im Gehirn von Menschen mit Kleinstgefäß-Erkrankung zählen Lakunen und Hyperintensitäten. Lakunen sind Löcher im Gehirn. Das Hirngewebe geht an diesen Stellen vollständig verloren. Bei Hyperintensitäten geht kein Hirngewebe verloren, aber seine Zusammensetzung verändert sich. Das kann in den MRT-Bildern durch auffällige Strukturen erkannt werden. Bislang ging man davon aus, dass Lakunen und Hyperintensitäten durch unterschiedliche Mechanismen entstehen. Die Ursache für Lakunen sah die Wissenschaft in einer akuten Schädigung, beispielsweise einem Hirninfarkt. Hyperintensitäten hingegen wurden als das Ergebnis längerfristiger, jedoch weniger schwerer Schädigungen angesehen. Diese Hypothese konnte das Forschungsteam um Dichgans widerlegen: „Unsere Studie zeigte erstmals, dass Lakunen und Hyperintensitäten am gleichen Ort im Gehirn entstehen, nämlich in den tiefer gelegenen Hirnregionen.“ Von dort breiten sich beide Veränderungen allmählich Richtung der oberflächlich gelegenen Hirnrinde, dem sogenannten Kortex, aus. Diese Beobachtung lässt für die Forscherinnen und Forscher den Schluss zu: Die Entstehung von Lakunen und Hyperintensitäten ist nicht grundsätzlich verschieden, sondern muss ähnlich und eng miteinander verbunden sein. Ein wichtiges Ergebnis, dass dazu beiträgt, die Auswirkungen von Kleinstgefäß-Erkrankungen im Gehirn besser zu verstehen.

Wenn das Gehirn an Volumen verliert

Auch zum Verständnis von Gehirnatrophie, dem Verlust von Hirnvolumen, ausgelöst durch krankhafte Veränderungen in den kleinsten Blutgefäßen konnte das Forschungsteam beitragen. Insbesondere für Volumenverluste in der Hirnrinde war ungeklärt, wie diese entstehen. Denn die meisten durch Kleinstgefäß-Erkrankungen ausgelösten Veränderungen liegen in den tiefen Teilen des Gehirns, also weit entfernt von der äußeren Hirnrinde. Um die Zusammenhänge zu verstehen, haben die Forschenden Nervenfaserbündel im Gehirn mit Hilfe der MRT rekonstruiert.

Im menschlichen Gehirn gibt es mehrere solcher Nervenfaserbündel. Wie mächtige Kabel verbinden sie unterschiedliche Regionen des zentralen Nervensystems. Durch die MRT-Untersuchung gekoppelt mit einer exakten Messung der Hirnrinde im Sub-Millimeter-Bereich, war es den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern möglich, das Wechselspiel zwischen Hirnrinde, Nervenfaserbündeln und tiefen Hirnstrukturen zu verstehen. „Wir konnten zeigen, dass die durch Mikroangiopathien entstandenen Veränderungen in den tiefen Hirnstrukturen erst sekundär zu einer Veränderung der Hirnrinde führen. Dieser Effekt wird durch die Nervenfaserbündel des Gehirns vermittelt“, erklärt Dichgans die Ergebnisse. Diese sekundäre Neurodegeneration könnte einen neuen therapeutischen Angriffspunkt bei Kleinstgefäß-Erkrankungen darstellen, hoffen die Forschenden.

Neue Marker für Risiko und Prognose

Durch die Auswertung der Studiendaten konnte das Forschungsteam zudem eine Reihe von Bildgebungsmarkern für Kleinstgefäß-Erkrankungen im Gehirn und für die kognitive Leistungsfähigkeit entwickeln. „Unsere Marker können dabei helfen, das Risiko für kognitive Beeinträchtigungen durch eine Kleinstgefäß-Erkrankung frühzeitig abzuschätzen und den Verlauf der Erkrankung zu prognostizieren – sowohl in der Forschung als auch in der Patientenversorgung“, beschreibt Dichgans.

BMBF-Förderung als „Sprungbrett“

Die Ergebnisse des in der ERA-Net Initiative NEURON geförderten Forschungsnetzwerkes dienten Professor Dichgans und seinen Kolleginnen und Kollegen als „Sprungbrett“ für die erfolgreiche Einwerbung eines weiteren europäischen Forschungsprojektes: In dem großangelegten Projekt erforschen aktuell Wissenschaftler an zwölf Institutionen in sieben Ländern gemeinsam die Prävention von Schlaganfällen und Demenz. Das Konsortium wird mit rund sechs Millionen Euro im Horizont 2020-Programms der Europäischen Union gefördert und von Professor Dichgans koordiniert. Das Forschungsprojekt heißt SVDs@Target: Small vessel diseases in a mechanistic perspective: Targets for Intervention Affected pathways and mechanistic exploitation for prevention of stroke and dementia.

Ansprechpartner:
Prof. Martin Dichgans
Institut für Schlaganfall-und Demenzforschung
Klinikum der Universität München
Feodor-Lynen-Straße 17
81377 München
Martin.Dichgans@med.uni-muenchen.de