Antidepressiva gelten als Medikamente, deren Wirkung oft spät einsetzt. Deshalb wird ein Wirkstoff oft über Monate verabreicht, obwohl der Therapieerfolg ausbleibt. Eine Studie belegt: Die schnellere Umstellung der Medikation beschleunigt den Therapieerfolg.
Winston Churchill verwendete einst einen „schwarzen Hund“ als Metapher für seine Depression. Die meisten Menschen, die an dieser seelischen Erkrankung leiden, fühlen sich ausgelaugt, traurig und leer – andere gehetzt und getrieben. Auch wenn die Krankheit öffentlich lange kaum wahrgenommen wurde – längst hat sie den Rang einer Volkskrankheit. Bei ihrer Behandlung spielen antidepressive Medikamente eine zentrale Rolle. Doch obwohl zahlreiche und bewährte Antidepressiva zur Verfügung stehen, kommt es oft zu langwierigen und schweren Krankheitsverläufen.
„Depressionen schränken Patientinnen und Patienten in ihrem Leben erheblich ein. Wenn erste Therapieschritte nicht wirken und Medikamente ausgetauscht werden müssen, führt dies oft zu sehr langen Behandlungszeiten“, so Professor Klaus Lieb, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz. „In dieser Situation verlieren die Menschen oft ihre Hoffnung, und die Gefahr eines Suizids steigt. Daher ist es für uns so wichtig, neue Strategien zu entwickeln, mit denen wir den Betroffenen schneller helfen können.“
Gesucht: der richtige Zeitpunkt für eine Umstellung der Medikation
Ein Weg, dies zu erreichen, ist die aufwendige und langwierige Entwicklung neuer antidepressiver Wirkstoffe. Ein zweiter Ansatzpunkt ist es, die Strategien zum Einsatz der heute verfügbaren und bewährten Antidepressiva zu optimieren. Genau hier setzt die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Studie zum „Early Medication Change“ (EMC, engl. „Früher Wechsel der Medikation“) an. Sie ist die erste aussagekräftige randomisierte klinische Studie zu dieser Fragestellung.
Bisher glaubte man, dass Antidepressiva ihre Wirkung nur langsam entfalten. Deshalb empfehlen aktuelle Leitlinien, eine vermeintlich erfolglose Therapie erst nach drei bis vier Wochen umzustellen. „Eine Besserung depressiver Symptome zeigt sich aber oft schon in den ersten 14 Tagen einer Therapie“, so Privatdozent Dr. André Tadić. Als Oberarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz koordinierte er die EMC-Studie. „Diese frühen Besserungen sagen den späteren Behandlungserfolg recht zuverlässig voraus. Bei schnellen Fortschritten ist ein vollständiger Therapieerfolg nach vier bis acht Wochen wahrscheinlich. Tritt dagegen nach zwei Wochen keine Besserung ein, ist eine Genesung auch in den folgenden Wochen unter der gleichen Therapie nicht zu erwarten.“ Die EMC-Studie ist die logische Konsequenz aus diesen Beobachtungen. Sie untersuchte, ob bei ausbleibendem Therapieerfolg eine schnellere Umstellung der Medikation bessere Ergebnisse erzielen und den Leidensweg der Patientinnen und Patienten verkürzen kann.
Neue Strategie beschleunigt den Behandlungserfolg
Die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz leitete die Studie und führte sie unter anderem in Kooperation mit dem ebenfalls vom BMBF geförderten Interdisziplinären Zentrum für Klinische Studien (IZKS) in Mainz durch. Rund 900 Patientinnen und Patienten mit mittelschweren oder schweren Depressionen nahmen daran teil. Alle erhielten eine antidepressive Therapie. Bei rund 200 Patientinnen und Patienten stellte sich in den ersten zwei Wochen der Behandlung keine Besserung ein. Sie wurden in zwei Gruppen eingeteilt und unterschiedlich weiterbehandelt:
In der Gruppe mit einem frühen Medikamentenwechsel wurden die Patientinnen und Patienten schneller wieder gesund. Sie zeigten auch bei einer Reihe anderer wichtiger Therapieaspekte bessere Ergebnisse.
Die EMC-Studie belegte, dass Patientinnen und Patienten, die nach einer zweiwöchigen Behandlung mit einem Antidepressivum keine oder eine geringe Verbesserung ihrer Beschwerden zeigen, mit großer Wahrscheinlichkeit eine Therapieumstellung benötigen, um gesund zu werden. „Die Studie verdeutlicht zudem, wie unverzichtbar öffentlich geförderte – sprich von der Pharmaindustrie unabhängige – klinische Studien für den Fortschritt in der Medizin sind“, so Lieb. „Wir hoffen, dass unsere Ergebnisse dazu führen, die Dauer erfolgloser antidepressiver Behandlungen und damit die Leidenszeit der Patientinnen und Patienten auf ein Minimum zu verkürzen. Es darf nicht sein, dass Menschen monatelang mit demselben Antidepressivum behandelt werden, wenn sich ihr Zustand dadurch nicht verbessert.“
Hoher Forschungsbedarf
Die unipolare Depression ist die häufigste Form der depressiven Störungen. Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) prognostiziert, dass sie im Jahr 2030 in den Industrienationen die Erkrankung mit der höchsten Krankheitslast sein wird; weltweit wird sie nur übertroffen von HIV/Aids. Die Vorhersage der WHO verdeutlicht, wie dringend effektivere Behandlungsstrategien entwickelt werden müssen.
Um Therapieerfolge zu beschleunigen, wollen Lieb und Tadić Strategien des „Early Medication Change“ weiterentwickeln und in klinischen Studien testen. Zudem gilt es, neue diagnostische Marker zu identifizieren – diese sollen noch früher zeigen, ob eine antidepressive Therapie wirksam ist oder nicht.
In Deutschland leiden rund vier Millionen Menschen – das sind fünf Prozent der Bevölkerung – an Depressionen. Das macht diese Erkrankung, ebenso wie Bluthochdruck oder Diabetes mellitus, zur Volkskrankheit. Bei jeder fünften Person verläuft die Depression chronisch und endet oft tragisch: 7.000 bis 9.000 Deutsche nehmen sich in jedem Jahr als Folge einer Depression das Leben. Die Erkrankung fordert somit mehr Opfer als Verkehrsunfälle, Drogenmissbrauch und Aids.
Ansprechpartner:
Prof. Dr. Klaus Lieb
Direktor
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsmedizin Mainz
Untere Zahlbacher Straße 8
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klaus.lieb@unimedizin-mainz.de