Eigentlich hat unser Immunsystem die Aufgabe, Eindringlinge, also zum Beispiel Viren oder Bakterien, zu bekämpfen. Bei Multipler Sklerose richten sich die Zellen des Immunsystems allerdings gegen den eigenen Körper und greifen das Nervensystem an. Die aggressiven Immunzellen können aber nicht nur zerstörerisch wirken. Sie produzieren auch einen Botenstoff, der Nervenzellen vor der Zerstörung bewahrt, den brain-derived neurotrophic factor, kurz BDNF. Dieses Phänomen der neuroprotektiven Autoimmunität haben Wissenschaftler nun bestätigt und so einen neuen Ansatzpunkt für zukünftige MS-Therapien entdeckt.
Die Krankheit der 1.000 Gesichter – so wird Multiple Sklerose genannt. Denn ihre Symptome sind vielfältig: Sehstörungen, Nervenschmerzen, Lähmungen, ein Kribbeln in der Haut – um nur einige zu nennen. Jedes Jahr erkranken etwa 2.500 Menschen in Deutschland an Multipler Sklerose, kurz MS. Heilung gibt es bislang nicht. MS ist eine entzündliche Erkrankung des Nervensystems, bei der sich T-Zellen gegen die eigenen Nervenzellen richten und diese zerstören. Die Myelinscheide, eine Schutzhülle der langen Nervenfortsätze, wird dauerhaft beschädigt und die nackten Nervenfortsätze, die Axone, gehen zu Grunde. Eine Hypothese besagt jedoch, dass genau diese aggressiven autoimmunen T-Zellen im Nervensystem nicht nur Schaden anrichten, sondern auch schützende Effekte vermitteln können. „So produzieren aktivierte T-Zellen beispielsweise den Wachstumsfaktor BDNF. BDNF steht für brainderived neurotrophic factor“, sagt Prof. Dr. Ralf Gold von der Ruhr-Universität Bochum. BDNF gehört zu den Neurotrophinen, einer Gruppe von Proteinen, die eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Nervensystems spielen und im reifen Nervensystem Neurone vor dem Untergang schützen können.
Professor Gold und sein Team haben nun in Mäusen mit autoimmuner Enzephalomyelitis (EAE), einer der menschlichen MS sehr ähnlichen Erkrankung, nachgewiesen, wie wichtig das von T-Zellen freigesetzte BDNF bei Multipler Sklerose ist. Schalteten die Forscher die Produktion des Schutzfaktors BDNF in den T-Zellen aus, nahm die Zahl der Nervenschäden zu. Es starben deutlich mehr Nervenzellen im Gehirn und Rückenmark der Mäuse und die Krankheit verlief schwerer als bei Tieren mit MS aber normalen T-Zellen. „Diese Ergebnisse bestätigen unsere Hypothese der sogenannten neuroprotektiven Autoimmunität: Immunzellen setzen BDNF gezielt in den entzündeten Arealen des Nervensystems frei und verhindern dort die fortschreitende Zerstörung von Axonen und ihrer Schutzhülle“, erklärt Professor Gold.
Schon vor einigen Jahren sind Ärzte auf die Idee gekommen, neurologische Erkrankungen mit Hilfe von BDNF zu heilen. „Leider ohne Erfolg“, so Professor Gold. Denn BDNF in das Gehirn einzuschleusen, ist nicht trivial. Der Grund: Das Gehirn wird durch die Blut-Hirn-Schranke abgeriegelt und geschützt. Diese Schranke zwischen Blutgefäßen und Gehirn verhindert, dass schädliche Substanzen, aber eben auch von außen zugeführtes BDNF, in das Gehirn gelangen. Professor Gold hat deshalb in einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Kompetenznetzes Multiple Sklerose geförderten Projekt gemeinsam mit seinen Projektpartnern Dr. Fred Lühder aus Göttingen und Dr. Ralf Linker aus Bochum die Blut-Hirn-Schranke gezielt ausgetrickst. „Wir haben T-Zellen, von denen wir wissen, dass sie die Blut-Hirn-Schranke überqueren können, als Transportmittel genutzt. Die T-Zellen wurden vorher gentechnisch so verändert, dass sie besonders viel BDNF produzieren“, beschreibt Professor Gold. Diese manipulierten T-Zellen wurden anschließend zur Therapie von Mäusen mit EAE eingesetzt. Das Ergebnis: Die T-Zellen wanderten über die Blut- Hirn-Schranke und entfalteten ihre neuroprotektive Wirkung gezielt in den entzündeten Bereichen des Nervensystems. „Im Rückenmark und Gehirn der behandelten Tiere starben deutlich weniger Nervenzellen und die Erkrankung verlief harmloser, ohne dabei die Immunantwort zu beeinflussen.“ Autoimmune T-Zellen können somit als Transporter für neuroprotektiv wirksames BDNF genutzt werden.
Eröffnet der Neuronen-Schutzfaktor BDNF somit eine neue Therapiemöglichkeit für Patientinnen und Patienten mit Multipler Sklerose? „Auch wenn unsere Ergebnisse in einem Mausmodell erzielt wurden, machen sie deutlich, dass BDNF in der MS-Therapie eine wichtigere Rolle spielt als bislang vermutet“, so Professor Gold. Einen Hinweis, dass BDNF auch für bereits etablierte MS-Therapien von zentraler Bedeutung ist, lieferten Versuche mit dem häufig in der MS-Therapie eingesetzten Immunmodulator Glatirameracetat. Es zeigte sich, dass eine Therapie mit Glatirameracetat nur dann wirksam ist, wenn Immunzellen ausreichend BDNF produzieren.
Ansprechpartner:
Prof. Dr. Ralf Gold
Klinikum der Ruhr-Universität Bochum
Neurologische Klinik
Gudrunstraße 56
44791 Bochum
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