Weltweit leiden mehr als 700 Millionen Menschen unter einer chronischen Nierenerkrankung. Oft kommt eine Blutarmut hinzu, die mit EPO behandelt werden muss. Doch die Therapie birgt teils lebensbedrohliche Risiken. Ein neues Software-Tool soll das ändern.
Ein anhaltendes Gefühl von Müdigkeit und Erschöpfung, das sich auch durch viel Schlaf und Ruhe nicht vertreiben lässt – so beschreiben Betroffene das Fatigue-Syndrom. Ausgelöst werden kann dieses etwa durch eine Blutarmut, wie sie häufig bei Menschen mit einer chronischen Nierenerkrankung auftritt. Die Betroffenen empfinden diese Begleiterscheinung der reduzierten Nierenfunktion als sehr belastend. Die Blutarmut lässt sich jedoch mit dem biotechnologisch hergestellten Hormon Erythropoietin (EPO) gut behandeln. „Allerdings geht die Behandlung bei hoher Dosierung mit einem erhöhten Risiko für Schlaganfälle und Herzinfarkte einher“, erklärt Professor Dr. Jens Timmer von der Universität Freiburg.
Gemeinsam mit der Systembiologin Professorin Dr. Ursula Klingmüller vom Deutschen Krebsforschungszentrum will er daher diese Risiken für die Patientinnen und Patienten minimieren und mit dem Forschungsteam eine Software entwickeln, die eine individuell angepasste Dosis vorschlägt. Diese soll einen optimalen Therapieeffekt erzielen und die Nebenwirkungen auf ein Minimum reduzieren. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert das Projekt im Rahmen des Forschungs- und Förderkonzeptes „e:Med: Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin“.
Mathematisches Modell brachte den Durchbruch
Um ihr Software-Tool zu entwickeln, mussten die Forschenden zunächst die Wirkung des körpereigenen Hormons EPO genauer verstehen. Das Hormon wird in der Niere hergestellt und steuert die Bildung von roten Blutkörperchen sehr präzise. Hat ein Mensch zu wenig rote Blutkörperchen, leidet er unter Blutarmut, werden jedoch zu viele produziert, steigt die Gefahr für Herzinfarkte und Schlaganfälle. In einem gesunden Körper setzt die Niere gerade so viel EPO frei, dass die Zellen ausreichend neue rote Blutkörperchen bilden. Kommt es zu einem erheblichen Blutverlust, kann die Niere aber auch deutlich mehr EPO ausschütten. Die Zellen müssen deshalb auf extreme Konzentrationsunterschiede von EPO reagieren können. „Zunächst konnten wir uns im Labor nicht erklären, wie die Zellen diese extremen Konzentrationsunterschiede ermitteln können“, beschreibt Klingmüller ihre Beobachtungen.
Erst das mathematische Modell brachte hier den Durchbruch. „Der Vorteil unseres Modells ist, dass es sich den zeitlichen Verlauf, also die Dynamik der Vorgänge, anschaut,“ erklärt Physiker Timmer. Die entscheidende Erkenntnis: Die Zelle tauscht die Rezeptoren auf ihrer Oberfläche, an die EPO andockt, ständig aus und ersetzt sie durch neue. So sind stets freie Rezeptoren verfügbar. Damit ist die Zelle in der Lage, große Konzentrationsunterschiede von EPO im Blut zu registrieren und die Produktion der roten Blutkörperchen entsprechend zu steuern. Diesen Prozess kann das Computermodell simulieren und vorhersagen, wie das Blutbild einer einzelnen Person auf eine bestimmte Menge EPO reagiert. Die Forschenden füttern die Software hierfür mit einem großen Datensatz von Erkrankten und Gesunden aus klinischen Studien.
Zulassung als Medizinprodukt geplant
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben bereits einen genauen Plan, wie es weitergehen soll: Nach der Optimierung des Modells mit weiteren Daten sowie einer klinischen Studie wollen sie eine Zulassung als Medizinprodukt beantragen und eine eigene Firma ausgründen. „Wenn alles wie geplant läuft, könnte es in gut fünf Jahren so weit sein“, sagt Timmer. Dieser kurze Zeithorizont ist möglich, weil sich die Dosierungsempfehlungen der Software innerhalb der geltenden Behandlungsrichtlinien für das bereits zugelassene Medikament EPO bewegen und keine zusätzlichen und aufwendigen Messungen notwendig sind. In der Praxis müssen die Betroffenen lediglich Blutproben abgeben. „Uns war wichtig, dass unsere Software mit ganz einfachen und robusten Messwerten arbeiten kann. Wir verwenden ausschließlich Blutwerte, die im Routinebetrieb der Klinik erhoben werden“, kommentiert Klingmüller.
Modell kann Leben retten
Auf Grundlage dieser Werte berechnet das Software-Tool dann einen Vorschlag für eine maßgeschneiderte Dosierung. Nach einigen Wochen können neue Blutproben für eine Überprüfung der aktuellen Dosis genutzt werden. Eine Anpassung kann etwa nötig werden, wenn die Behandelten unter Entzündungen leiden. Denn diese können dazu führen, dass die roten Blutkörperchen schneller abgebaut werden. Hierfür will das Forschungsteam künftig auch noch Entzündungs- und Eisenwerte der Patientinnen und Patienten in das Modell integrieren, die ebenfalls bei der Blutentnahme ermittelt werden.
Noch ist das Tool nur für die Behandlung von Erwachsenen ausgelegt. Im Rahmen einer neuen Kooperation mit der Kinderklinik in Heidelberg will das Forschungsteam die Software allerdings auch für Kinder anpassen, die ganz andere EPO-Dosen benötigen. Außerdem könnte das Modell künftig auch bei Krebspatientinnen und -patienten zum Einsatz kommen, die aufgrund einer Chemotherapie ebenfalls häufig unter einer Blutarmut leiden. So, hoffen die Forschenden, können schwerwiegende Nebenwirkungen wie Herzinfarkte oder Schlaganfälle schon bald verhindert werden. Timmer bringt es auf den Punkt: „Unser Modell bringt für viele Patientinnen und Patienten nicht nur ein Plus an Lebensqualität, sondern kann im besten Fall auch Leben retten.“
Systemmedizin
Ob Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Demenz oder Krebs – viele Krankheiten haben eines gemeinsam: Entstehung, Verlauf und Therapieerfolg hängen von zahlreichen Faktoren ab. Dazu gehören die genetische Veranlagung, der persönliche Lebensstil und äußere Einflüsse. Das Wissen über die Rolle dieser Faktoren wächst dank der modernen Forschung rasant an. Aufgabe der Systemmedizin ist es, das Zusammenspiel all dieser Faktoren umfassend und mithilfe von mathematischen Modellen zu entschlüsseln – und so den Weg zu neuen Therapien und Präventionsstrategien zu ebnen. Dafür verzahnt sie neueste Erkenntnisse aus der lebenswissenschaftlichen Grundlagenforschung und der Medizin mit dem Wissen und den Methoden aus Informatik, Mathematik und Physik.
Ansprechpartner:
Prof. Dr. Jens Timmer
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Physikalisches Institut
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