Fachleuten des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) ist es gelungen, den Verlauf von Alzheimer noch vor dem Auftreten von Demenzsymptomen zu verfolgen. Der dabei verwendete Bluttest könnte helfen, neue Therapien zu entwickeln.
Eine Alzheimer-Erkrankung entwickelt sich meist über viele Jahre unbemerkt. Denn schon lange bevor Symptome einer Demenz auftreten, sterben Nervenzellen ab. Deren Überreste können bis ins Blut gelangen. „Normalerweise werden solche Trümmerstücke schnell abgebaut und eignen sich daher nicht sehr gut als Indikator für Neurodegeneration“, erläutert Professor Mathias Jucker, Arbeitsgruppenleiter am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), Standort Tübingen, und zugleich Direktor am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung: „Eine Ausnahme ist das sogenannte leichte Neurofilament, es ist erstaunlich beständig. Dieses Protein ist normalerweise Bestandteil des Skeletts von Nervenzellen. Bei Nervenschäden kann es freigesetzt werden, und Bruchstücke des Neurofilaments sind dann im Blut nachweisbar.“
Internationale Studie
Tatsächlich wird das Neurofilament – auch unter dem Kürzel „Nfl“ bekannt – schon länger als möglicher Biomarker für Neurodegeneration untersucht. Vor diesem Hintergrund widmete sich ein Team um Jucker der Alzheimer-Erkrankung. Die Forschenden konnten zeigen, dass sich das Nfl lange vor dem Auftreten klinischer Symptome im Blut anreichert, den Verlauf der Krankheit widerspiegelt und Vorhersagen über künftige Entwicklungen ermöglicht. Die Ergebnisse entstanden im Rahmen eines internationalen Forschungsverbunds, dem „Dominantly Inherited Alzheimer Network“ (DIAN). Weltweit wurden 405 Erwachsene, in deren Familien Alzheimer-Erkrankungen genetisch bedingt auftreten, untersucht. „Unter Verwandten mit solchen Erbanlagen macht sich Alzheimer meist in einem ähnlichen und sehr frühen Alter bemerkbar. Aufgrund genetischer Analysen ist es daher möglich, ziemlich genau vorherzusagen, ob und wann ein Familienmitglied erkranken wird“, so Jucker.
Vorboten von Demenz
Bei rund der Hälfte der Studienteilnehmer konnte der Verlauf der Nfl-Konzentration über Jahre hinweg dokumentiert werden. Fazit: Bis zu 16 Jahre vor dem errechneten Eintreten von Demenzsymptomen gab es im Blut einen auffälligen Anstieg. „Aussagekräftiger als der absolute Wert der Konzentration ist die zeitliche Entwicklung. Es kommt also darauf an, den Nfl-Spiegel über einen längeren Zeitraum zu verfolgen“, sagt Jucker.
Hirnscans zeigten, dass die Veränderung der Nfl-Konzentration die Schrumpfung des Gehirns und somit den Krankheitsverlauf sehr gut widerspiegelt. Zudem ermöglichten die Daten recht genaue Prognosen über das Voranschreiten der Erkrankung: „Wir konnten Vorhersagen über den Verlust von Hirnmasse machen und auch über kognitive Beeinträchtigungen, die rund zwei Jahre später tatsächlich eingetreten sind“, erläutert Jucker.
Werkzeug für die Therapieforschung
Nach Ansicht des Tübinger Wissenschaftlers eröffnet dieser Bluttest der Therapieforschung neue Möglichkeiten. „Bisherige Behandlungen gegen Alzheimer setzen erst dann an, wenn Symptome einer Demenz schon auftreten. Das ist wohl zu spät, denn das Gehirn ist dann schon massiv beschädigt. Deshalb benötigen wir einerseits zuverlässige Früherkennung und andererseits Verfahren, mit denen sich die Wirksamkeit von Therapien bereits dann testen lässt, wenn es noch keine Symptome gibt“, so Jucker. Insbesondere gelte es zu prüfen, ob eine Therapie den Verlust von Hirnmasse verlangsame. „Hier liegt das Potenzial dieses Biomarkers. Er spiegelt den neuronalen Abbau sehr gut wider und ermöglicht zudem den Blick in die Zukunft, also Vorhersagen über den weiteren Krankheitsverlauf. Wir arbeiten daran, diese Forschungserkenntnisse rasch in die klinische Praxis zu bringen.“
Nicht nur bei Alzheimer, auch im Zuge weiterer neurodegenerativer Erkrankungen kommt es im Blut zur Anreicherung von Neurofilamenten. „Neurofilamente im Blut sind noch kein Beleg für Alzheimer. Dieser Biomarker kann für sich allein genommen eine Alzheimer-Erkrankung nicht erkennen“, so Jucker. „Doch in Kombination mit anderen Verfahren könnte er zur Diagnose möglichweise beitragen.“
Die aktuelle Studie widmete sich der „familiären“, also erblich bedingten Form der Alzheimer-Erkrankung. Jucker ist zuversichtlich, dass die Messung der Nfl-Konzentration auch bei der viel häufigeren „sporadischen“ Variante von Nutzen sein kann. „Dieser Bluttest misst den neuronalen Abbau, unabhängig von den Ursachen. Deshalb sollte das Verfahren auch dann aussagekräftige Informationen über den Krankheitsverlauf liefern, wenn eine Alzheimer-Erkrankung nicht erblich bedingt ist.“
„Serum neurofilament dynamics predicts neurodegeneration and clinical progression in presymptomatic Alzheimer’s Disease“, Oliver Preische, Stephanie A. Schultz, Anja Apel et al., Nature Medicine (2019), DOI: 10.1038/s41591-018-0304-3
Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e. V. (DZNE)
Das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e. V. (DZNE) erforscht die Ursachen von Erkrankungen des Nervensystems und entwickelt Strategien zur Prävention, Therapie, Pflege und Patientenversorgung. Durch seine zehn Standorte (Berlin, Bonn, Dresden, Göttingen, Magdeburg, München, Rostock/Greifswald, Tübingen, Ulm und Witten) bündelt das DZNE exzellente, über Deutschland verteilte Expertise innerhalb einer einzigen Forschungseinrichtung. Zugleich kooperiert es eng mit Universitäten, deren Kliniken und außeruniversitären Einrichtungen. Neben dem DZNE gibt es fünf weitere Deutsche Zentren, welche die größten Volkskrankheiten erforschen.
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