Hassan ist 8 Jahre alt. Er wohnt am Mehringplatz in Berlin-Kreuzberg, im siebten Stock eines Wohnsilos. Der Zweitklässler sitzt an seinen Hausaufgaben. Um ihn herum toben seine jüngeren Geschwister. Der Fernseher läuft in voller Lautstärke. Hassan ist wütend und versucht verzweifelt, sich zu konzentrieren. Die Lehrerin hat ihn heute schon vor der ganzen Klasse getadelt, weil er seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Die Situation von Hassan ist kein Einzelfall im Berliner Stadtteil Kreuzberg. „Die Gegend gilt als sozialer Brennpunkt. Hier leben viele Familien in belastenden Lebenssituationen. Viele Mütter sind alleinerziehend, viele Bewohner arbeitslos. Familien mit Migrationshintergrund sind hier besonders häufig“, beschreibt Professorin Dr. Ulrike Maschewsky-Schneider von der Charité Universitätsmedizin Berlin. Und natürlich gibt es auch viele Kinder, die dieses Umfeld prägt. „Entwicklungs- und Sprachdefizite, gesundheitliche Belastungen, ein hoher Medienkonsum, Übergewicht und Verhaltensauffälligkeiten sind in Stadtteilen wie Kreuzberg leider besonders häufig.“
Nicht zu übersehen: Zu der markanten Tasche der Stadtteilmütter gehört der gleichfarbige Schal.In diesem Umfeld startete 2008 die Beratungsstelle „Interkulturelles Familienzentrum tam“ des Diakonischen Werkes Berlin Stadtmitte das soziale Projekt „Stadtteilmütter“. Das Prinzip ist schnell erklärt: Frauen aus dem Stadtteil werden zu Stadtteilmüttern geschult. Sie sollen den Kontakt zu den Familien herstellen und fördern. Die wichtigste Aufgabe der Stadtteilmütter ist es, den Familien Tipps zur Erziehung ihrer Kinder zu geben und sie an öffentliche Hilfsangebote zu vermitteln. „Denn aus der Vergangenheit wissen wir, dass die Hilfsangebote gerade von Familien in belastenden Lebenssituationen nur sehr selten in Anspruch genommen werden. Entweder weil sie die Möglichkeiten gar nicht kennen oder die Hemmschwelle zu groß ist“, beschreibt Maschewsky-Schneider.
Erkennungszeichen: Roter Schal und Tasche
Bereits ein ähnliches Projekt wie die Berlin-Kreuzberger Stadtteilmütter, seinerzeit in Berlin-Neukölln, hat vor einigen Jahren viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Das Besondere an der Neuauflage in Berlin-Kreuzberg ist aber, dass die Arbeit der Stadtteilmütter von Anfang an wissenschaftlich begleitet wurde. Maschewsky-Schneider hat diese Aufgabe übernommen. Zwischen 2008 und 2011 hat sie mit ihrem Team das Projekt begleitet. Dabei wurde untersucht, ob es den Stadtteilmüttern gelingt, Zugang zu den Familien zu bekommen, und wie sich die Arbeit der Frauen auswirkt. In den drei Jahren konnten 67 Frauen als Stadtteilmütter für das Projekt gewonnen werden. Man erkennt sie sofort am roten Schal und der auffälligen roten Tasche. Die Mehrheit der Frauen ist türkischer Abstammung. Es sind aber auch arabische, deutsche und Frauen anderer Herkunft engagiert. Die Stadtteilmütter sind zwischen 25 und 53 Jahre alt. Die meisten sind in Deutschland geboren oder leben seit Langem hier. Der Bildungshintergrund der Stadtteilmütter ist sehr verschieden, die Mehrheit hat keinen Berufsabschluss oder einen Abschluss, der in Deutschland nicht anerkannt wird. Fast alle waren zur Sicherung ihrer Lebensgrundlage auf staatliche Unterstützung angewiesen. „Wichtig ist: Die Stadtteilmütter haben denselben kulturellen Hintergrund und leben in einer ähnlichen Situation wie die Familien, mit denen sie Kontakt aufnehmen. Sie kennen die hiesigen Probleme, Bedürfnisse und Umgangsformen. Die Stadtteilmütter sind also selbst Teil der Zielgruppe“, erklärt Maschewsky-Schneider. Und damit, so betont die Forscherin, war ein weiteres Ziel der wissenschaftlichen Bewertung definiert: „Wir haben auch untersucht, wie sich die Qualifizierung zur Stadtteilmutter auf ihre eigene Lebenssituation auswirkt.“
Unterwegs in Berlin-Kreuzberg: die Stadtteilmütter – hier bei ihrem ersten Kurs.
Vertrauen ist das A und O
Die wissenschaftliche Evaluation des Projektes in Berlin-Kreuzberg hat klar gezeigt, dass die gesetzten Ziele erreicht wurden: Die Stadtteilmütter haben während des Projektes mehr als 300 stark belastete Familien mit zusammen 875 Kindern persönlich erreicht. Dies war bereits ein zentrales Anliegen des Projekts. Die Familien tatsächlich zu Hause zu besuchen, gestaltete sich für die Stadtteilmütter jedoch schwieriger als erwartet. „Die Akzeptanz von Hausbesuchen ist bei den Familien nicht immer gegeben, etwa aus Angst vor dem Jugendamt oder vor dem Gerede in der Nachbarschaft“, erklärt die Forscherin. „Einfacher war die Kontaktaufnahme beispielsweise in Elterncafés.“ Oft konnten die Stadtteilmütter den belasteten Familien tatsächlich ganz individuell helfen. Die Hälfte der befragten Mütter hat ihre Probleme mithilfe der Stadtteilmütter lösen können. Ein weiteres Drittel glaubt, einer Lösung näher gekommen zu sein. Ein paar Beispiele: Viele berichten, dass sie mehr mit ihren Kindern unternehmen, mehr reden und mehr Grenzen setzen, besonders beim Medienkonsum. Dadurch habe sich ihre Beziehung zu den Kindern positiv verändert. In vielen Fällen verbesserten sich auch die Deutschkenntnisse der Mütter, was zu mehr Verbindungen der Familien nach außen führte. Etliche Frauen berichteten auch über gestiegenes Selbstvertrauen oder einen besseren Status innerhalb der eigenen Familie. Eine Mutter sagt: „Ich habe es durch meine Erfahrung mit den Stadtteilmüttern geschafft, mein Leben mit meinen Kindern zu verbessern und zu ändern. Ich bin jetzt mutiger, ich traue mich, Entscheidungen zu treffen.“
Für Kinder wie Hassan ist es nicht selbstverständlich, in Ruhe Hausaufgaben zu machen. Besonders wichtig für die Arbeit der Stadtteilmütter ist es, Vertrauen zu den Eltern aufzubauen. Gelingt dies, können sie die meisten davon überzeugen, zusätzliche Hilfe anzunehmen: Nachhilfe, Logopädie, aber auch Angebote des Jugendamts oder psychologische Beratung und Sportangebote. „Hiervon profitieren besonders die Kinder“, betont Maschewsky-Schneider. Die neue Aufgabe bereichert auch die Stadtteilmütter selbst. Sie betonen, dass sie durch die Ausbildung viel gelernt haben und jetzt mehr Selbstvertrauen haben. Sie berichten auch, dass sich das Verhalten ihrer eigenen Kinder verändert und verbessert hat. Das gilt beispielsweise bei der Ernährung oder in der Schule. „Immerhin mehr als ein Viertel unserer Stadtteilmütter haben sich weiterqualifiziert, zum Beispiel zur Sozialassistentin. Das Projekt war also auch eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt“, sagt Maschewsky-Schneider.
Auch Hassan haben die Stadtteilmütter geholfen. Hassan hat jetzt eine ruhige Ecke für seine Hausaufgaben. Der Fernseher bleibt öfter aus. Zweimal in der Woche geht er zum Training in den Fußballverein und ist seitdem viel ausgeglichener.
Ansprechpartnerin:
Prof. Dr. Ulrike Maschewsky-Schneider
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Berlin School of Public Health (BSPH)
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