Zwischen 25.000 und 40.000 Menschen sind in Deutschland von Muskeldystrophien betroffen – Hauptsymptome dieser erblichen Erkrankungen des Muskels sind Muskelschwäche und ein fortschreitender Verlust an Muskelmasse. Die seltenen Muskelerkrankungen zu verstehen und das Leid der Betroffenen zu lindern ist das Ziel der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eines deutschlandweiten Forschungsnetzes. Jetzt ist ihnen ein wichtiger Schritt gelungen: Sie untersuchen die Krankheiten ab sofort im Zeitraffer. (Newsletter 65 / Dezember 2013)
Rennen, Springen oder Treppensteigen – was für gesunde Kinder selbstverständlich ist, bereitet Kindern mit der Muskeldystrophie vom Typ Duchenne schon früh Probleme. Spätestens mit zwölf Jahren sitzen sie im Rollstuhl. Nur wenige erleben ihren 30. Geburtstag. Die Duchenne Muskeldystrophie ist eine seltene, schwer verlaufende Erbkrankheit, die bereits im frühen Kindesalter die Muskeln schwächt – zunächst die Skelettmuskulatur, später meist auch Herz- und Atemmuskulatur. Ein genetischer Test bringt Gewissheit: Den Kindern fehlt das für die Muskeln essenzielle Protein Dystrophin. Eine genetische Veränderung in der Erbanlage für Dystrophin ist die Ursache.
„Je weniger Menschen an einer Erkrankung leiden, desto schwieriger ist ihre systematische Erforschung“, sagt Professorin Dr. Maggie Walter.Das Dystrophin-Gen ist das größte Gen des menschlichen Genoms. Es liegt auf dem X-Chromosom. Deshalb sind nur Jungen von der Krankheit betroffen. Sie können den Defekt nicht mit einem zweiten gesunden Gen ausgleichen. „Mädchen hingegen, die auf einem ihrer zwei X-Chromosomen die Mutation tragen, sind zwar Überträgerinnen der Krankheit, selbst aber meist nicht betroffen. Es gibt aber auch Überträgerinnen, die milde Symptome haben, wie beispielsweise Muskelschmerzen, Muskelschwäche oder eine Störung der Herzmuskulatur“, erklärt Professorin Dr. Maggie Walter. Sie ist Neurologin am Friedrich-Baur-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München und leitet – gemeinsam mit Professor Janbernd Kirschner von der Universitätskinderklinik Freiburg und Professor Matthias Vorgerd vom Klinikum Bergmannsheil der Ruhr-Universität Bochum – das deutschlandweite Muskeldystrophie Forschungsnetzwerk, kurz MD-NET.
Seltene Krankheiten – Herausforderung für Forschung und Versorgung
Die Forschung zu Muskeldystrophien wie der Duchenne Muskeldystrophie ist eine besondere Herausforderung. Denn die einzelnen Erkrankungen sind äußerst selten. Die Duchenne Muskeldystrophie beispielsweise betrifft einen von 3.500 neugeborenen Jungen. Selten ist eine Krankheit per Definition dann, wenn weniger als einer von 2.000 Menschen davon betroffen ist. Aus dieser Situation ergeben sich verschiedene Probleme: „So bestehen zum Teil erhebliche Defizite im medizinischen Alltag, weil auch Fachärzte sich nicht immer mit seltenen Erkrankungen auskennen“, sagt die Expertin. „Oftmals gibt es keine wirksamen Therapien, weil die Krankheitsursachen nur unzureichend bekannt sind. Denn: Je weniger Menschen an einer Erkrankung leiden, desto schwieriger ist ihre systematische Erforschung.“
Erkrankung im Zeitraffer
Patienten mit der seltenen Erbkrankheit Duchenne Muskeldystrophie sind schon im Kindesalter auf den Rollstuhl angewiesen.Für die Duchenne Muskeldystrophie kennt die Wissenschaft zwar seit Langem die Ursache – die zugrunde liegende Genveränderung wurde als eine der ersten überhaupt vor mehr als 25 Jahren beschrieben. Dennoch ist bislang keine Heilung in Sicht. „Neue Gentherapien, die vereinfacht gesagt darauf abzielen, den genetischen Defekt mit einer Art molekularem Pflaster zu korrigieren, lassen die Betroffenen hoffen. Doch erst kürzlich gab es einen herben Rückschlag“, beschreibt Walter. Ein neues Gentherapeutikum hatte in einer klinischen Studie nicht wie erwartet gewirkt. „Das ist leider keine Seltenheit“, bedauert Walter. „Überspitzt ausgedrückt: Wenn eine Therapie Mäuse heilt, heißt das noch lange nicht, dass sie auch Menschen hilft. Denn unsere bislang verfügbaren Tiermodelle, mit denen neue Therapieansätze geprüft werden, unterscheiden sich sowohl klinisch als auch genetisch zu sehr von der menschlichen Krankheit.“
Deshalb setzen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Muskeldystrophie Netzwerkes, das seit 2003 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt wird, auf ein anderes Tiermodell: das Schwein. „Schweine eignen sich besonders gut für die medizinische Forschung. Sie sind dem Menschen in vielen genetischen und physiologischen Merkmalen sehr ähnlich. Man denke nur daran, dass Ärzte seit rund 20 Jahren Menschen mit Herzklappenerkrankungen erfolgreich Schweineherzklappen übertragen“, so Walter. Der Neurologin ist gemeinsam mit dem Veterinärmediziner Professor Eckhard Wolf vom Lehrstuhl für Molekulare Tierzucht und Biotechnologie der LMU München kürzlich ein wichtiger Schritt gelungen: Sie haben Schweine gezüchtet, die denselben genetischen Defekt tragen, wie er bei vielen Patienten mit Duchenne Muskeldystrophie vorkommt.
Erste Untersuchungen haben gezeigt, dass die Krankheit dieser Schweine der humanen Erkrankung extrem ähnlich ist. „Interessanterweise schreitet die Krankheit bei den Tieren viel schneller fort als beim Menschen. Sie durchlaufen die Erkrankung also quasi im Zeitraffer“, erklärt Walter.
Das neue Tiermodell des Münchener Wissenschaftsteams bietet nun die Möglichkeit, zielgerichtete Therapien für die Duchenne Muskeldystrophie auf ihre Wirksamkeit und Sicherheit hin zu verbessern – bevor sie bei betroffenen Kindern getestet werden. „Damit lassen sich unnötige andere Tierversuche vermeiden, und der Erfolg der klinischen Studien ist besser vorhersagbar als bislang.“
Informationen zum MD-NET finden Sie hier.