Zwischen einer Sucht und den Erlebnissen von Gewalt und Vernachlässigung in der Kindheit bestehen viele Zusammenhänge: Sucht kann sowohl Ursache als auch Folge von Gewalt sein. Die Zusammenhänge werden erforscht, um Prävention und Therapie zu verbessern.
Um Kindern von suchtbelasteten Eltern möglichst früh Hilfen bereitzustellen, ist es wichtig, das Gewaltrisiko der Eltern in einem Beratungsgespräch schnell und zuverlässig einschätzen zu können. Mit dem „Hamburger Belastungsbogen“ hat der Forschungsverbund „CANSAS“ ein solches Screening-Instrument entwickelt und evaluiert. Die Eltern müssen nur acht Fragen beantworten, unter anderem zur familiären und sozialen Situation, zu psychischen Erkrankungen und zu eigenen Gewalterfahrungen. Anschließend können die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Suchtberatungsstelle mit hoher Sicherheit abschätzen, ob die Kinder suchterkrankter Eltern bereits in ihrer gesunden körperlichen und psycho-sozialen Entwicklung gefährdet sind. So wird neben der Unterstützung der Eltern auch Hilfe für die belasteten Kinder möglich. Denn die Sucht* eines oder gar beider Elternteile ist eine der wichtigsten Ursachen für Gewalt und Vernachlässigung in der Kindheit. Der Hamburger Belastungsbogen wird mittlerweile deutschlandweit in Suchtberatungsstellen erfolgreich eingesetzt.
Sucht als Ursache und Folge von Gewalt
Werden Kinder früh Opfer von Gewalt und Vernachlässigung, entwickeln sie in ihrem weiteren Leben nicht selten eine Sucht nach Alkohol, Medikamenten oder Drogen. „Suchterkrankungen können sowohl Ursache als auch Folge früher Gewalt sein. Es ist wichtig, die Zusammenhänge zwischen Gewalt und Suchtproblemen zu erforschen. Denn nur wenn wir Auslöser und Risikofaktoren kennen, können wir angemessene präventive und therapeutische Ansätze entwickeln“, sagt Ingo Schäfer. Er ist Professor an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und leitet den Forschungsverbund CANSAS. Ein Ziel von CANSAS ist es, neue Behandlungsansätze für Betroffene zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus wollen die Forschenden den Blick der Mitarbeitenden in der Suchthilfe schärfen, zum einen auf Gewalterlebnisse in der Kindheit von Suchtkranken, zum anderen auf die drohende Gefahr, dass die Suchtkranken ihren eigenen Kindern gegenüber gewalttätig werden. Im CANSAS-Verbund, der vom Bundesforschungsministerium gefördert wurde, arbeiten hierfür Expertinnen und Experten aus der Therapie, der Epidemiologie sowie der Grundlagen- und Versorgungsforschung zusammen. Es handelt sich um den ersten Forschungsverbund zu diesem Thema in ganz Europa.
Lernen, die richtigen Fragen zu stellen
Um bei Menschen mit Suchtproblemen schnell zu erkennen, ob die Ursache ihrer Sucht in traumatischen Erlebnissen der Kindheit verankert ist, entwickelten die CANSAS-Wissenschaftler ein spezifisches Trainingsprogramm für Fachkräfte in Suchtberatungsstellen. Es trägt den Titel „Learning how to ask“. In einem Tagesworkshop lernen die Suchtberaterinnen und -berater, traumatische Erlebnisse aus der Kindheit gezielt zu erfragen. Denn nur wenn die Berater um die Traumatisierung der Suchtkranken wissen, können sie den Betroffenen auch gezielte Hilfe anbieten. „Tatsächlich berichten die Teilnehmer unserer Workshops, dass sie sich im Anschluss deutlich sicherer fühlten beim Erfragen von traumatischen Erlebnissen aus der Kindheit. Auch die objektive Häufigkeit mit der diese Traumatisierungen anschließend im Beratungsalltag erkannt werden, nimmt durch den Tagesworkshop signifikant zu“, berichtet Schäfer.
Nach Schätzungen des „European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction“ gibt es allein in Deutschland fünf bis sechs Millionen Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren, deren Eltern alkoholabhängig sind. Das sind 15,5 Prozent aller bundesdeutschen Kinder und Jugendlichen. Schätzungen zufolge findet in etwa 30 Prozent der suchtbelasteten Familien Gewalt gegenüber den Kindern statt, im Durchschnitt doppelt bis dreimal so häufig wie in nicht suchtbelasteten Familien. Kinder aus suchtbelasteten Familien haben im Vergleich zu Kindern nicht suchtkranker Eltern ein bis zu sechsfach höheres Risiko, eine psychische Störung zu entwickeln und selbst im Laufe ihres Lebens von Drogen oder Alkohol abhängig zu werden. In der Allgemeinbevölkerung wird bei jedem vierten Erwachsenen, der Misshandlung oder Vernachlässigung in der Kindheit erlebt hat, die Diagnose einer substanzbezogenen Störung gestellt. Die Hälfte bis zwei Drittel aller Klientinnen und Klienten in Suchtberatung und -behandlung haben in der Kindheit Misshandlungen oder emotionale Vernachlässigung erlebt. Viele leiden unter unbehandelten posttraumatischen Störungen.
Passgenaues Hilfsangebot für traumatisierte Suchtkranke
Doch bislang fehlte es hierzulande auch an passgenauen Hilfsangeboten für Suchtkranke mit traumatischen Erfahrungen von Gewalt in der Kindheit. „Sie fallen in unserem Hilfesystem, sowohl in der Traumatherapie als auch in der Suchthilfe, schlicht ‚durch das System‘“, beschreibt Schäfer. Deshalb hat das CANSAS-Netzwerk das Therapieprogramm „Sicherheit finden“ zur Gruppen- und Einzelbehandlung traumatisierter Suchtkranker entwickelt und in Hamburg erprobt. In dem Therapieprogramm werden die Traumatisierungen nicht im Detail besprochen. Ziel der Behandlung ist es vielmehr, die Folgen dieser Erfahrungen besser zu verstehen und „sichere Bewältigungsstrategien“ zu erlernen. Diese sollen es den Betroffenen ermöglichen, auf Substanzkonsum und andere „unsichere“ Verhaltensweisen zu verzichten. Das Programm kann auch mit anderen Therapien kombiniert werden, beispielweise mit Therapieformen, in denen die Traumatisierungen detailliert aufgearbeitet werden. Mittlerweile wird das Behandlungsprogramm von vielen Einrichtungen in ganz Deutschland erfolgreich eingesetzt.
Sucht als Selbstmedikation gegen das Erlebte
Das CANSAS-Team hat auch erforscht, ob es einen Zusammenhang zwischen der Regulation von Emotionen und einer Suchterkrankung sowie den Erlebnissen früher Gewalt gibt. Hierzu wurden in der Abteilung für Klinische Psychologie der Universität Heidelberg rund 150 Menschen mit frühen Kindheitstraumata und einer Suchterkrankung sowie traumatisierte gesunde Kontrollprobanden hinsichtlich ihrer Strategien zur Emotionsregulation untersucht. Es zeigte sich, dass beide Gruppen ihre Emotionen tatsächlich unterschiedlich kontrollieren. Suchtkranke Menschen, die früh Gewalt oder Vernachlässigung erfahren haben, weisen im Vergleich zu traumatisierten Menschen ohne Suchterkrankung Defizite in der Emotionsregulation auf. „Die Betroffenen können mit ihren negativen Emotionen viel schlechter umgehen. Sie grübeln mehr, meiden gefühlsbetonte Situationen, um sich vor ihren traumatischen Erlebnissen zu schützen, und sind emotional unflexibler. Diese Defizite wiederum sind mit dem Suchtverlangen und mit Rückfällen assoziiert“, beschreibt Schäfer. Zudem entwickeln sie für sich selbst Argumente, dass ihre Sucht einer Art „Selbstmedikation” dient, um das Erlebte zu verarbeiten. Diese Erkenntnisse bieten neue Ansatzpunkte sowohl für die Prävention von Suchterkrankungen als auch für die Behandlung der Betroffenen.
*) Mit dem Begriff Sucht sind „substanzbezogene Störungen“ gemeint, die sowohl den schädlichen Gebrauch als auch die Abhängigkeit von Substanzen beinhalten.
Forschung zu Missbrauch, Vernachlässigung und Gewalt
Mit der Fördermaßnahme „Forschungsverbünde zu Verhaltensstörungen im Zusammenhang mit Gewalt, Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch in Kindheit und Jugend“ unterstützt das BMBF seit 2012 die Forschungslandschaft in Deutschland. Insgesamt elf Forschungsverbünde mit unterschiedlichen thematischen Ausrichtungen werden gefördert. In den Verbünden arbeiten 31 universitäre und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen aus ganz Deutschland zusammen. Das BMBF stellte dafür bislang etwa 23 Millionen Euro zur Verfügung. Mit einer im November 2016 veröffentlichten zweiten Bekanntmachung führt das BMBF die Fördermaßnahme fort. Hierzu stellt das BMBF weitere 16 Millionen Euro bereit.
Ansprechpartner:
Prof. Dr. Ingo Schäfer
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Martinistraße 52
20246 Hamburg
i.schaefer@uke.de