Dezember 2022

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Tourette-Syndrom: Kann eine internetbasierte Therapie helfen?

In Deutschland fehlen therapeutische Fachkräfte, die Menschen mit dem Tourette-Syndrom behandeln. Um dennoch möglichst vielen helfen zu können, haben Forschende eine internetbasierte Behandlung entwickelt. Sie könnte diese Versorgungslücke schließen.

Junger Mann mit Tourette-Syndrom

Das Tourette-Syndrom, eine angeborene Erkrankung des Nervensystems, äußert sich durch plötzliche, schnelle Bewegungen, Blinzeln, Grimassenschneiden und unvermittelte Lautäußerungen und geht mit einer oft starken Einschränkung der Lebensqualität einher.

Creative Cat Studio / Adobe Stock 

Abrupte Bewegungen oder Lautäußerungen: Mit dem Tourette-Syndrom einhergehende Tics schränken die Lebensqualität der Betroffenen oft stark ein. Durch entsprechende Therapien können diese Tics aber wirkungsvoll gelindert werden; eine spezielle Form der Verhaltenstherapie – die sogenannte Comprehensive Behavioral Intervention for Tics (CBIT) – gilt als besonders vielversprechend. Sie basiert auf einem Habit-Reversal-Training (HRT), das darauf abzielt, dass Patientinnen oder Patienten sich der Tic-auslösenden Verhaltensabläufe bewusst werden und ihnen „gegensteuern“, indem sie diese durch konkurrierende Abläufe ersetzen. Anders als für die alternative medikamentöse Behandlung mit Antipsychotika sind für diese Therapie auch keine belastenden Nebenwirkungen bekannt.

Da erst seit wenigen Jahren bekannt ist, dass die HRT-Therapie Tics lindern kann, gibt es hierzulande bislang nur sehr wenige Therapeutinnen und Therapeuten, die sie anbieten. Eine internetbasierte Behandlungsform könnte diese Versorgungslücke künftig schließen: Ein Forschungsteam um die in Hannover lehrende Professorin Dr. Kirsten Müller-Vahl hat in Kooperation mit der Firma Minddistrict eine entsprechende Anwendung entwickelt.

Unabhängig von therapeutischen Fachkräften kann die internetbasierte umfassende Verhaltensintervention für Tics (iCBIT) von den Betroffenen selbst umgesetzt werden. „Eine erste klinische Studie, die wir durchgeführt haben, spricht dafür, dass auch durch diese internetbasierte Therapieform die Tics deutlich reduziert werden, wenn auch nicht ganz so stark wie bei einer Face-to-Face-Therapie durch eine speziell ausgebildete Fachkraft“, erläutert Müller-Vahl.

Tourette-Syndrom
Schätzungsweise etwa 0,4 bis 0,8 Prozent der Menschen erkranken an einem Tourette-Syndrom, das nach seinem Entdecker auch als Gilles-de-la-Tourette-Syndrom bezeichnet wird. Es handelt sich hierbei um eine angeborene Erkrankung des Nervensystems. Die Betroffenen führen plötzliche, schnelle Bewegungen aus, blinzeln mit den Augen oder schneiden Grimassen. Unvermittelte Lautäußerungen, etwa Räuspern, Schniefen oder Hüsteln, oder das Aussprechen von Silben sind ebenfalls typisch für das Tourette-Syndrom. Bei komplexen Verläufen können auch obszöne Ausdrücke geäußert werden. Die „Tics“ genannten Bewegungen und Lautäußerungen erfolgen unwillkürlich und können allenfalls kurzzeitig unterdrückt werden. Der Begriff Tic kommt aus dem Französischen und bedeutet übersetzt (nervöses) Zucken.

Auch ohne Therapeutenkontakt auf lange Sicht weniger Tics

Mit der Zeit, so berichtet die Wissenschaftlerin, nahmen die Tics bei den Personen, die internetbasiert behandelt wurden, jedoch immer mehr ab: „Sechs Monate nach der Therapie zeigte sich bei den über iCBIT behandelten Personen eine stärkere Tic-Reduktion als in der Patientengruppe, die persönlichen Therapeutenkontakt hatte“, beschreibt Müller-Vahl. Die Professorin arbeitet als geschäftsführende Oberärztin an der Medizinischen Hochschule Hannover, ist Leiterin der Forschungsgruppe Tourette und erforscht das Tourette-Syndrom und seine möglichen Behandlungsformen seit fast 30 Jahren.

Müller-Vahl ist federführend beteiligt an den nationalen, europäischen und amerikanischen Leitlinien zur Behandlung des Tourette-Syndroms und Präsidentin der Europäischen Tourette-Gesellschaft ESSTS (European Society for the Study of Tourette Syndrome). Die von ihr geleitete klinische Studie hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) von 2015 bis 2020 mit mehr als 1,1 Millionen Euro unterstützt.

Professorin Dr. med. Kirsten Müller-Vahl

Professorin Dr. med. Kirsten Müller-Vahl

privat

Klinische Studie legt Wirksamkeit der ausschließlich internetbasierten Therapie nahe 

Um eine internetbasierte Anwendung möglich zu machen, mussten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zunächst die Inhalte der therapeutischen Handbücher in eine Internetplattform übertragen. Die Informationen wurden darüber hinaus durch zahlreiche Videos, Expertenhinweise und Erfahrungsberichte von Menschen mit Tourette-Syndrom ergänzt. Unterstützt wurden die Forschenden dabei von Vertreterinnen und Vertretern der Selbsthilfegruppen. Sie haben unter anderem Probeläufe durchgeführt und bei der Rekrutierung der Probandinnen und Probanden geholfen.

An der folgenden Studie, mit der die Wirksamkeit der internetbasierten Therapie überprüft wurde, nahmen 161 Patientinnen und Patienten teil. „Damit ist diese Studie eine der größten Therapiestudien überhaupt, die jemals mit Personen mit Tourette-Syndrom durchgeführt wurde“, freut sich Müller-Vahl. „Erstmals weltweit konnten wir zeigen, dass die HRT-Therapie wirksam ist, auch wenn sie allein über das Internet erfolgt.“ An der multizentrischen Studie beteiligten sich alle großen Behandlungszentren für das Tourette-Syndrom in Deutschland.

Zulassung als Digitale Gesundheitsanwendung angestrebt

Die Forschenden hoffen, dass die internetbasierte Therapieform als Digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) zugelassen wird, und seitens des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) wurde eine vorläufige Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis angeboten. Noch ist die Plattform für Patientinnen und Patienten allerdings nicht zugänglich, denn damit die internetbasierte Therapieform endgültig zugelassen wird und per Rezept verschrieben werden kann, ist eine weitere Studie notwendig. Diese soll dazu dienen, die Erfolg versprechenden Ergebnisse wissenschaftlich abzusichern.

Originalpublikationen:

Haas M, Jakubovski E., Kunert K., Fremer C., Buddensiek N., Häckl S., Lenz-Ziegenbein M., Musil R., Roessner V., Münchau A., Neuner I., Koch A., Müller-Vahl K. (2022) ONLINE-TICS: Internet-Delivered Behavioral Treatment for Patients with Chronic Tic Disorders. J Clin Med. 2022 Jan 4;11(1):250. DOI: 10.3390/jcm11010250PMID: 35011989PMCID: PMC8745756. Jakubovski E., Reichert C., Karch A., Buddensiek N., Breuer D., Müller-Vahl K. (2016). The ONLINE-TICS Study Protocol: A Randomized Observer-Blind Clinical Trial to Demonstrate the Efficacy and Safety of Internet-Delivered Behavioral Treatment for Adults with Chronic Tic Disorders. Front Psychiatry. 2016 Jun 30;7:119. PMID: 27445874; PMCID: PMC4928510. DOI:  10.3389/fpsyt.2016.00119

Ansprechpartnerin:
Prof. Dr. med. Kirsten Müller-Vahl
Zentrum für Seelische Gesundheit, Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1
30625 Hannover
Telefon: 0511 532-3551
E-Mail: Mueller-Vahl.Kirsten@mh-hannover.de