Training statt Bettruhe verhindert Oberschenkelhalsbrüche - Präventionsmaßnahmen in Pflegeheimen könnten bis zu 40 Millionen Euro sparen

Mehr als die Hälfte der Bewohner von Pflegeheimen stürzt mindestens einmal im Jahr – in rund 30.000 Fällen kommt es hierbei zu einem Oberschenkelhalsbruch. Das lässt sich verhindern! Denn ein gezieltes Kraft- und Balancetraining und einfache Maßnahmen, um die Umgebung der meist höchstbetagten Bewohner anzupassen, verhindern nicht nur jeden fünften Sturz und fast jeden fünften Oberschenkelhalsbruch, sondern haben auch das Potenzial, bis zu 40 Millionen Euro für das Gesundheitssystem einzusparen.

In Deutschland lautet jedes Jahr für mehr als 120.000 meist ältere Menschen die Diagnose: Oberschenkelhalsbruch – in vielen Fällen ausgelöst durch einen Sturz. Fast ein Viertel der Oberschenkelhalsbrüche passiert in Alten- und Pflegeheimen. Denn gerade Bewohnerinnen und Bewohner von Heimen leiden oftmals an Muskelschwäche, Gleichgewichtsstörungen oder demenziellen Erkrankungen und sind deshalb besonders sturzgefährdet. Bis vor Kurzem gab es kaum gezielte Maßnahmen, um diese oftmals gefährlichen Stürze und Knochenbrüche in Heimen zu verhindern. „Denn vielfach wird der Präventionsgedanke nur auf Kinder oder junge Erwachsene bezogen – nicht aber auf hoch- und höchstbetagte Menschen. Weil es sich – überspitzt formuliert – anscheinend nicht mehr lohnt. Aber das ist schlichtweg falsch“, sagt Privatdozent Dr. Clemens Becker vom Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart und entwickelte deshalb ein einfaches Programm zur Prävention von Stürzen und Knochenbrüchen in Alten- und Pflegeheimen. „Und zwar ganz ohne den Einsatz von Medikamenten“, so Dr. Becker.

Fast jeder fünfte Oberschenkelhalsbruch kann verhindert werden

In einer Studie, die weltweit die größte ihrer Art ist und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt wird, wurde das Programm mit mehr als 20.000 Pflegeheimbewohnern in 250 Pflegeheimen in Bayern erprobt. Mit Erfolg! „Mit recht einfachen Mitteln verringerte sich innerhalb von nur einem Jahr die Zahl der Stürze um 20 Prozent und die Zahl der Oberschenkelhalsbrüche um 18 Prozent. Alle bisherigen Versuche, einen ähnlichen Erfolg mit Medikamenten zu erzielen, sind gescheitert“, beschreibt Dr. Becker. Zudem spart das Präventionsprogramm Geld. Denn würde das Programm tatsächlich in allen deutschen Alten- und Pflegeheimen eingeführt, ließe sich fast ein Fünftel der Oberschenkelhalsbrüche, also rund 5.000, verhindern. „Die Behandlung einer jeden Hüftfraktur kostet etwa 8.000 Euro. Bei 5.000 verhinderten Brüchen könnte das also für das Gesundheitssystem ein Einsparpotenzial von bis zu 40 Millionen Euro bedeuten“, betont Dr. Becker. Die Kosten für die Sturzprophylaxe hingegen betragen für jedes Heim pro Jahr rund 5.000 Euro.

Kniebeugen und Tanzschritte fördern Kraft und Balance

Das Präventionsprogramm besteht aus drei Teilen: aus einem speziellen Kraft- und Balancetraining für ältere Menschen, einfachen Maßnahmen für ein sicheres Wohnen und einer gezielten Unterstützung durch das Heimpersonal. Beim Krafttraining üben die Bewohner zum Beispiel Kniebeugen, also sich alleine von einem Stuhl hochzudrücken und sich langsam wieder hinzusetzen. Im Balancetraining tanzen die Bewohnerinnen und Bewohner einfache Schritte aus dem Seniorentanz, um so ihren Gleichgewichtssinn zu stärken. Die Maßnahmen für ein sicheres Wohnen umfassen etwa, den nächtlichen Toilettengang so sicher wie möglich zu gestalten. „Denn das sind tatsächlich die gefährlichsten Meter“, so Dr. Becker. „Demenzpatienten, die hierbei besonders unterstützt werden müssen, statten wir falls nötig mit einem Sensor aus. Dieser Sensor registriert, wenn die Patienten nachts aufstehen und ruft dann automatisch eine Pflegekraft.“ Trotz umfassender Maßnahmen lassen sich natürlich nicht alle Stürze vermeiden. Deshalb empfiehlt Dr. Becker älteren Menschen, Hüftprotektoren zu tragen, die schwere Folgen eines Sturzes verhindern können.

Bauchgurte und Bettgitter sind der falsche Weg

Mittlerweile wird das neue Erfolgskonzept zur Sturzprophylaxe bereits in etwa 2.000 Alten- und Pflegeheimen in ganz Deutschland eingesetzt. Ziel der Präventionsforscher ist es aber, das Programm in allen rund 10.000 Alten- und Pflegeheimen zu etablieren. „Denn viele Heime setzen auch heute noch auf freiheitseinschränkende Maßnahmen, um ihre Bewohner vor Stürzen zu schützen. Hierzu zählen zum Beispiel Bauchgurte, Bettgitter oder abgeschlossene Türen“, beschreibt Dr. Becker. „Das ist aber nach den Ergebnissen unserer Studie der falsche Weg! Wir plädieren deshalb für ein gezieltes Training statt einer Einschränkung der Bewegung!“

Ansprechpartner:
Priv. Doz. Dr. Clemens Becker
Robert-Bosch-Krankenhaus
Klinik für Geriatrische Rehabilitation
Auerbachstraße 110
70376 Stuttgart
Tel.: 0711 8101–3101
Fax: 0711 8101–3199
E-Mail: clemens.becker@rbk.de