November 2020

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„Transfer ist kein Sprint, sondern eine Langstrecken-Disziplin“

Ende Oktober 2020 erläutert Thomas Rachel, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), im Interview wie Forschungspolitik den Transfer effizienter macht - und was sie dabei aus der Covid-19-Pandemie lernen kann.

Porträt von Thomas Rachel, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)

Thomas Rachel, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)
 

Hans-Joachim Rickel/BMBF

Sehr geehrter Herr Rachel, der medizinische Fortschritt soll künftig schneller bei den Menschen ankommen. Was muss sich ändern?

Thomas Rachel: Der Weg von der neuen wissenschaftlichen Erkenntnis bis zur Verbesserung des Versorgungsalltags in Krankenhäusern und Arztpraxen ist komplex – und wird es auch bleiben. Denn nur das Zusammenspiel vieler Akteure aus unterschiedlichen Bereichen – Forschung und Versorgung, Gesundheitswirtschaft und Zulassungsbehörden – gewährleistet, dass neue Therapien und diagnostische Methoden wirksam und sicher sind. Das ist aufwendig und braucht Zeit. Wir können beim Transfer – zumindest im Regelfall – also nicht so einfach aufs Tempo drücken oder eine Abkürzung nehmen. Unsere Strategie muss es daher sein, die Reibungsverluste zwischen den Akteuren des „Transfergetriebes“ zu minimieren. Denn je besser sie miteinander verzahnt sind, desto schneller kommt der Fortschritt bei den Menschen an.

In diesem Sinne richtet das BMBF all seine Förderinitiativen konsequent auf eine transferorientierte Gesundheitsforschung aus. So wollen wir die akademische Forschung dabei unterstützen, ökonomische und rechtliche Voraussetzungen für die Zulassung neuer Verfahren und Produkte frühzeitig mitzudenken. Dadurch können Unternehmen innovative Produktideen aus den Forschungslaboren schneller aufgreifen und zur Marktreife entwickeln.

Zur Person

Thomas Rachel ist Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung. Im Strategiekreis der Nationalen Dekade gegen Krebs, der die Ziele und Handlungsfelder der Dekade definiert und entsprechende Aktivitäten anstößt, hat Thomas Rachel den Vorsitz.

Akute Herausforderungen wie Covid-19 verlangen nach schnellen Lösungen. Wie gut sind wir darauf vorbereitet – und was können wir aus der Pandemie für den Transfer lernen?

Zunächst haben wir gesehen, dass Forschung und Versorgung in Deutschland gut aufgestellt sind. So wurde in kürzester Zeit das weltweit erste etablierte diagnostische Verfahren für das neue Coronavirus an der Berliner Charité entwickelt. Auch die deutsche Impfstoffforschung bringt Erfolg versprechende Ansätze hervor – aktuell befinden sich mehrere Impfstoffkandidaten in der klinischen Prüfung. Doch solche Erfolge fallen nicht vom Himmel. So ist die Infektionsforschung seit mehr als zehn Jahren fester Baustein der BMBF-Förderung. Hiervon profitieren wir in Deutschland enorm. Die Erkenntnisse aus den letzten Jahren beschleunigen die aktuelle Forschung im Kampf gegen Covid-19.

Um die Versorgung der Erkrankten schnell zu verbessern, haben wir die Expertisen der deutschen Universitätsmedizin sehr zeitnah im Nationalen Forschungsnetzwerk der Universitätsmedizin gegen Covid-19 gebündelt. Auch dieses Netzwerk fing nicht bei null an: Um zu erforschen, wie Covid-19-Patientinnen und -Patienten bestmöglich behandelt werden können, nutzt es eine von den Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung und der Medizininformatik-Initiative entwickelte IT-Infrastruktur – ein System, das den Austausch und die Analyse aktueller Forschungs- und Versorgungsdaten ermöglicht.

Netzwerk Universitätsmedizin

Logo Netzwerk Universitätsmedizin

Das Nationale Forschungsnetzwerk der Universitätsmedizin ist ein einzigartiger Zusammenschluss der gesamten deutschen Universitätsmedizin. Koordiniert wird es von der Charité-Universitätsmedizin Berlin. Es schafft die Basis für eine konzertierte Erforschung von Covid-19-Behandlungsmethoden. Denn Maßnahmenpläne, Diagnostik- und Behandlungsstrategien aller deutschen Universitätskliniken werden zusammengeführt und ausgewertet. So wird eine optimale Versorgung der Covid-19-Erkrankten sichergestellt.

Zu dem Netzwerk gehört auch eine Nationale Task Force. Sie dient der Steuerung und Abstimmung zwischen der Universitätsmedizin und der Politik.

Mehr Informationen zum Netzwerk und zur Task Force finden Sie auf der netzwerkeigenen Internetseite

Wir lernen aus der Pandemie aber auch, dass wir die Technologiesouveränität in der Arzneimittel- und Impfstoffentwicklung in Deutschland und in Europa stärken müssen. Hierzu ist eine strategische Optimierung der biomedizinischen Wertschöpfung von der Idee bis zum Produkt erforderlich. Um auf künftige Krisen noch schneller reagieren zu können, werden wir Strukturen, Technologieplattformen, Know-how und Prozesse aus Wissenschaft und Forschung noch stärker bündeln und weiter ausbauen.

Die Entwicklung neuer Impfstoffe beansprucht in der Regel zehn bis 15 Jahre. Ein Impfstoff gegen das neue Coronavirus könnte aber schon im nächsten Jahr zur Verfügung stehen. Was beschleunigt den Transfer in diesem Fall so enorm?

Die nationale und internationale Forschungsgemeinschaft fokussiert ihre Kapazitäten derzeit weltweit in einem noch nie da gewesenen Ausmaß. Aktuell forschen über 200 Forschungsgruppen gleichzeitig an Impfstoffen gegen ein einziges Virus – das ist eine bisher einmalige Situation. Das BMBF und andere internationale staatliche Förderorganisationen stellen enorme Ressourcen zur Verfügung – für nationale Projekte ebenso wie für internationale Initiativen. Für ein deutsches Sonderprogramm zur Beschleunigung von Forschung und Entwicklung dringend benötigter Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 stehen jetzt insgesamt 750 Millionen Euro bereit. Auch die Voraussetzungen für die Zulassung wurden im Sinne eines schnellen Transfers modifiziert. So können zum Beispiel die Testphasen klinischer Studien überlappen, um wertvolle Zeit zu sparen. Zugleich fahren Labore und Unternehmen die Produktion vielversprechender Impfstoffkandidaten vorsorglich hoch. Im Fall einer Zulassung stehen dadurch schnell große Impfstoffmengen zur Verfügung.

Die Bekämpfung der Pandemie rechtfertigt es, den Transfer in diesem noch nie dagewesenen Tempo voranzutreiben. Diese Intensität lässt sich aber nicht auf den Normalbetrieb der Gesundheitsforschung übertragen. In der Breite der Gesundheitsforschung wird daher weiterhin gelten: Transfer ist kein Sprint, sondern eine Langstrecken-Disziplin.

Impfstoff in Sicht

Aktuelle positive Zwischenergebnisse lassen auf einen Impfstoff Ende 2020 hoffen. Biontech und Pfizer beantragen die Zulassung bei der europäischen Zulassungsbehörde. Zwischenergebnisse zeigen, dass BNT162b2 – so heißt der Impfstoff – eine Wirksamkeitsrate von über 90 Prozent erzielt.

Mehr Information zur BMBF geförderten Impfstoffentwicklung finden Sie hier.

Von welchen Entwicklungen in der Gesundheitsforschung versprechen Sie sich besonders große und wegweisende medizinische Fortschritte?

Wir stehen heute an der Schwelle zur Medizin der Zukunft. Neue Technologien beschleunigen den Wissenszuwachs in der biomedizinischen Forschung enorm – allen voran die Digitalisierung. Sie macht eine personalisierte Medizin immer greifbarer – eine Medizin, die jede Patientin und jeden Patienten maßgeschneidert und bestmöglich behandeln soll. Grundlage für diese Medizin sind qualitativ hochwertige Forschungs- und Versorgungsdaten – und zwar in riesigen Datenmengen. Mit Methoden der Künstlichen Intelligenz werden Forschende, Ärztinnen und Ärzte diese Daten künftig schneller und besser analysieren können, um den Erkenntnisgewinn voranzutreiben und den Versorgungsalltag weiter zu verbessern.

Wie werden die Menschen von der Personalisierung der Medizin profitieren?

Das zeigen schon heute die Fortschritte zum Beispiel in der Krebsmedizin besonders deutlich. Einst als gleich angesehene und behandelte Tumore zeigen auf der molekularen Ebene entscheidende Unterschiede. Sie sind die Ursache, dass ein bestimmtes Medikament bei dem einen Menschen wirkt, bei dem anderen aber nicht. Heute können Ärztinnen und Ärzte mit diesem Wissen bestimmte Lungentumore personalisiert und zielgenau bekämpfen. Viele Betroffene gewinnen dadurch wertvolle Lebensjahre.

Steht dank neuer Technologien also ein Durchbruch in der Krebsmedizin bevor?

Einen einmaligen Befreiungsschlag im Kampf gegen Krebs wird es nicht geben, denn wir haben es mit einem extrem heterogenen Krankheitsgeschehen zu tun. Die neuen Technologien ermöglichen es uns jedoch, den Krebs besser zu verstehen als je zuvor. Jetzt kommt es darauf an, die vielen wichtigen Erkenntnisse schnell in innovative Produkte und Konzepte umzusetzen und damit auch die Versorgung von Menschen mit Krebs rasch zu verbessern.

Deshalb hat das BMBF 2019 die Nationale Dekade gegen Krebs ins Leben gerufen. Unter ihrem Dach haben sich alle zentralen Akteure bereichsübergreifend zusammengeschlossen – darunter das Bundesministerium für Gesundheit, das Deutsche Krebsforschungszentrum, die Deutsche Krebshilfe, der Spitzenverband der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen und Krebs-Selbsthilfeorganisationen. Die vielfältigen Expertisen der Partner decken alle Bereiche der Transferkette ab.

Mitglieder des Strategiekreises der Nationalen Dekade gegen Krebs, Gruppenfoto

Im Strategiekreis der Nationalen Dekade gegen Krebs sind alle wichtigen Akteursgruppen vertreten (Mai 2019 im BMBF).

Hans-Joachim Rickel/BMBF

Was sind die Ziele der Nationalen Dekade gegen Krebs?

Alle Menschen in Deutschland sollen Zugang zu einer hochwertigen onkologischen Versorgung und zu Innovationen der Krebsforschung mit nachgewiesenem Nutzen haben. Wir entwickeln Strategien, um neue Möglichkeiten der Früherkennung, Diagnose, Therapie und Nachsorge zu erforschen. Mit innovativen Präventionskonzepten wollen wir die Zahl neuer Krebsfälle langfristig senken. Das Potenzial dafür ist enorm: Rund 40 Prozent aller Krebserkrankungen sind auf Risikofaktoren zurückzuführen, die wir mit unserem Lebensstil beeinflussen können.

Welche Initiativen hat die Dekade auf den Weg gebracht?

Wir werden in den kommenden Jahren vier neue Standorte des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen etablieren. Die heutigen Standorte in Heidelberg und Dresden öffnen vielen krebskranken Menschen über klinische Studien den Zugang zu innovativen Therapien. Forscherinnen und Forscher sowie Ärztinnen und Ärzte arbeiten hier unter einem Dach, um neuen Therapien schneller den Weg in die breite Versorgungspraxis zu bahnen. Darüber hinaus fördert das BMBF im Rahmen der Krebsdekade 13 Vergleichs- und Optimierungsstudien, die die Bereiche Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge sowie verschiedene Behandlungsmethoden abdecken. Transfer heißt aber immer auch Datentransfer. Um Daten aus der Versorgung für die Gesundheitsforschung nutzbar zu machen, dockt die Dekade an die Medizininformatik-Initiative an und wird „Digitale FortschrittsHubs“ in der Onkologie zur Auswertung medizinischer Daten aus der Patientenversorgung im stationären und ambulanten Bereich fördern.

Dekade gegen Krebs

Logo Nationale Dekade gegen Krebs

Mit der Nationalen Dekade gegen Krebs hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gemeinsam mit vielen weiteren Partnern eine bisher einmalige Initiative ins Leben gerufen. Ihr Ziel: die Krebsforschung entscheidend voranbringen und dabei Patientinnen und Patienten eng einbinden, um ihnen immer bessere Chancen auf Heilung und Genesung zu eröffnen. In der auf zehn Jahre ausgerichteten Initiative arbeiten Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Krebsforschung, Forschungsförderung, Gesundheitswesen, Wirtschaft und Gesellschaft eng zusammen. Sie wollen durch eine starke Krebsforschung möglichst viele Krebsneuerkrankungen verhindern, Prävention und Früherkennung verbessern, Forschungsergebnisse schneller zu den Betroffenen bringen und deren Lebensqualität verbessern.

Mehr Informationen zur Nationalen Dekade gegen Krebs finden Sie auf den Internetseiten: dekade-gegen-krebs.de

Krebs ist die von den Menschen am meisten gefürchtete Krankheit. Wie nimmt die Dekade deren Wünsche und Erwartungen an die Krebsforschung in den Blick?

Der Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern ist für uns ein wichtiger Impulsgeber und zugleich Wegbereiter des Transfers. Denn Ideen werden nur dann zu Gesundheitsinnovationen, wenn die Menschen sie auch akzeptieren. Das beste Konzept ist nur erfolgreich, wenn die Menschen auch mitmachen! Ende 2019 haben wir deshalb alle Bürgerinnen und Bürger zu einem vierwöchigen Online-Dialog eingeladen. Mehr als 3.000 Personen – Erkrankte, deren Angehörige und Freunde, aber auch Menschen, die sich in Selbsthilfegruppen und Patientenvertretungen engagieren, sowie Forschende und medizinisches Fachpersonal – haben sich daran beteiligt. Ihre Wünsche und Ideen fließen jetzt in die Diskussionen der Dekade mit ein.

Und das gilt nicht nur in der Krebsmedizin. Im Rahmenprogramm Gesundheitsforschung haben wir es uns zur Leitlinie gemacht, den Mensch in den Mittelpunkt der Gesundheitsforschung zu stellen. Damit alle am medizinischen Fortschritt teilhaben können, müssen Forschung und Entwicklung die Lebensumstände und die Wünsche der Menschen von vornherein mitdenken.

Vielen Dank für das Gespräch.