15.11.2023

Übersetzerin zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft

Fragen aufwerfen, Diskussionen in Gang bringen: Die Medizinethikerin Silke Schicktanz untersucht, welche Chancen und Risiken mit innovativen Technologien einhergehen können und will Impulse für gesellschaftliche Debatten setzen.

Professorin Dr. Silke Schicktanz

Big Data und Künstliche Intelligenz in der Medizin: Für beides braucht es Vertrauen und Akzeptanz, die sich nur über eine breite gesellschaftliche Debatte aufbauen lassen, sagt die Medizinethikerin Silke Schicktanz.

Vincent Leifer, Greifswald

Beim Thema Gesundheit ergeben sich dafür viele Ansatzpunkte – angefangen bei der Genforschung und Pränataldiagnostik über die Transplantationsmedizin bis hin zu medizinischen Fragen am Lebensende. Ein Thema steht bei der in Göttingen lehrenden Professorin derzeit besonders im Fokus: Big Data und Künstliche Intelligenz (KI).

Täglich werden unzählige Daten in Kliniken, Arztpraxen und in der Forschung erhoben – ein bedeutsamer Datenschatz zum Beispiel für individuell zugeschnittene Therapien. Allerdings sieht die promovierte Biologin und Philosophin beim Thema Big Data und KI nach wie vor große Unsicherheiten – sowohl auf Seiten des medizinischen Fachpersonals als auch in der Öffentlichkeit. Für Schicktanz gehen medizinische Innovationen mit einem großen ethischen Spannungsfeld einher; sie weiß um Licht und Schattenseiten. „Dank vielfältiger Informationen lässt sich viel konkreter voraussagen, ob eine existierende Therapie für eine bestimmte Patientin oder einen bestimmten Patienten wirklich hilfreich ist“, nennt Schicktanz beispielhaft einen Aspekt. „Man wird aber auch genauere Vorhersagen zum möglichen Eintritt einer Krankheit treffen können, die momentan noch gar nicht behandelbar ist. Wie geht man in einem solchen Fall mit den gewonnenen Erkenntnissen sinnvoll um?“

Nicht jeder oder jede wolle erfahren, dass er oder sie in zehn Jahren möglicherweise an Demenz erkranken könnte. Und dürfte eine solche Information an andere, etwa Krankenkassen, weitergegeben werden, solange nicht geregelt ist, wie mit diesem prognostischen Wissen umzugehen ist? „Das sind Probleme, die wir schon aus der Gendiagnostik kennen. Gerade bei technischen Innovationen in der Medizin müssen ethische Fragen deshalb von Beginn an mitgedacht werden“, so Schicktanz.

Vertrauen und Akzeptanz lassen sich nur über eine breite Debatte aufbauen

Als Beispiele, wo dies geschieht, nennt Schicktanz das HiGHmed-Konsortium der Medizininformatik-Initiative (MII) und das Forschungsprojekt EIDEC. In beiden Fällen geht es um die Entwicklung und Nutzung innovativer Informationsinfrastrukturen und -technologien. Etwa bei Smartwatches, die Vitaldaten von Patientinnen und Patienten mit Herzinsuffizienz auch nach ihrer Entlassung aus der Klinik an Ärztinnen und Ärzte übermitteln, damit diese Alarmsignale rechtzeitig erkennen können und nicht erst, wenn die Betroffenen wieder mit akuten Beschwerden in die Klinik kommen. „Für solche Anwendungen aber braucht es Vertrauen und Akzeptanz, die sich nur über eine breite gesellschaftliche Debatte aufbauen lassen“, betont Schicktanz.

Im Forschungsprojekt EIDEC untersuchte sie die Entwicklung und den Einsatz sensorgestützter Systeme bei der Versorgung demenzkranker Menschen, also beispielsweise Ortungsgeräte, Apps mit Erinnerungsfunktion und Assistenzroboter. Trotz intensiver Forschung ist diese Technologie noch nicht wirklich im Alltag angekommen – zum Teil, weil sie zu kompliziert in der Handhabung und nicht immer verlässlich ist. Zudem bewerteten Betroffene die damit einhergehenden Folgen sehr unterschiedlich, nennt Schicktanz ein Ergebnis ihrer Arbeit. „Für einige ist es sehr wichtig, dass die Daten mit niemandem geteilt werden, selbst wenn ein solches Gerät eine Fehlfunktion hat. Andere wünschen, dass die Daten an enge Angehörige weitergegeben werden, damit diese eine Chance haben einzugreifen und Meldungen zu kontrollieren. Eine dritte Gruppe wiederum war bereit, die Daten zum Beispiel auch mit Forschenden oder Krankenversicherungen zu teilen, weil sie einen gesellschaftlichen Zweck darin sieht.“ Bei der Entwicklung innovativer Anwendungen spielen Patientinnen und Patienten eine wichtige Rolle: Sie unterstützen die Forschenden, indem sie persönliche Erfahrungen einbringen. „Die differenzierten Sichtweisen der Öffentlichkeit, von Betroffenen oder pflegenden Angehörigen auch in technische Überlegungen einzubeziehen – das hat auch die Forschung im Bereich der Ethik über solche Gesundheitstechnologien wirklich vorangebracht“, sagt Schicktanz.

Eine Gruppe Menschen sitzt um einen Tisch

Die ethischen Ziele und Dimensionen der Medizin sind einer der Forschungsschwerpunkte von Professorin Silke Schicktanz und des Teams am Göttinger Institut für Ethik und Geschichte der Medizin.

Universitätsmedizin Göttingen / Sven Pförtner

Ethik und Naturwissenschaft – „eine faszinierende Kombination“

Ihre Forschung – und das ist das Spannende für Silke Schicktanz – ist interdisziplinär angelegt. Bei HiGHmed und EIDEC kommen Informatiker, Naturwissenschaftler, Mediziner und Ethiker zusammen und bringen jeweils eigene Sichtweisen und ganz unterschiedliche Begriffsvorstellungen mit. Um zu einer gemeinsamen Sprache zu finden, brauche es einen intensiven Austausch und die Bereitschaft, das eigene sichere Terrain zu verlassen. Interdisziplinäres Arbeiten bedeutet für die Göttinger Professorin auch, „dass jeder für sich erkennt, wo die Begrenzungen der eigenen Disziplin liegen, und wie sich die eigenen Konzepte durch diesen Austausch weiterführen lassen. Oder dass neue Fragen entstehen, die nicht unbedingt leicht zu lösen sind.“

In den 1990er Jahren studierte Schicktanz an der Universität Tübingen die damals noch neue und ungewöhnliche Fächerkombination Biologie und Philosophie. In Tübingen promovierte sie auch zum Thema Xenotransplantation, der Verpflanzung von Geweben und Organen zwischen unterschiedlichen Arten, auch von Tieren auf den Menschen. Nach ihrer Promotion war sie Projektleiterin der ersten bundesweiten Bürgerkonferenz „Streitfall Gendiagnostik“, die ein Positionspapier zu den Chancen und Risiken der Gendiagnostik erarbeitete und so zum Modellprojekt wurde für einen bis dato noch nicht praktizierten, ergebnisoffenen Prozess der Wissensvermittlung, Meinungsbildung und öffentlichen Diskussion im Dialog zwischen Forschenden und interessierten Bürgerinnen und Bürgern.

„Durch die Koordination der Konferenz wurde mir sehr deutlich, welche besondere Rolle gerade Bioethiker in der Kommunikation zwischen Naturwissenschaften und sehr komplizierter Technologie-Entwicklung spielen können und bei den wichtigen gesellschaftlichen Fragen, die sich in diesem Feld eigentlich immer stellen“, sagt Schicktanz.  „Ich sehe unsere Disziplin in der wichtigen Rolle einer Übersetzerin in beide Richtungen – von der Wissenschaft in die Öffentlichkeit und von der Öffentlichkeit in die Wissenschaft.“

Anders und doch gut: Forschung im Ausland schärft den Blick über den Tellerrand

Wissbegier und Forscherdrang haben Schicktanz über die Grenzen der eigenen Disziplin und des eigenen Landes hinaus nach Israel, Indien und in die USA geführt. „Diese Stationen beeinflussen meine Arbeit und Denkweise bis heute“, sagt die Medizinethikerin. „An der University of California in Berkeley habe ich eine Form von Offenheit und auch interdisziplinärer Austauschwilligkeit bei Kollegen erlebt, die ich aus Deutschland so nicht kannte.“

Eine besondere Verbindung hat Schicktanz zu Israel, einem führenden Standort der Hightech-Medizin. Ihr ging es nicht zuletzt darum, durch einen Kulturvergleich deutlich zu machen, „dass Dinge, die in der deutschen Öffentlichkeit oder Politik manchmal für selbstverständlich gehalten werden – wie beispielsweise die rechtliche Haltung zur Sterbehilfe oder zur prädiktiven Gendiagnostik – , auch ganz anders gesehen werden können und dennoch überzeugend sein können. „Das ist sehr wichtig für Lernprozesse auch auf gesellschaftlicher Ebene, und ich hoffe das transportieren zu können“, so Schicktanz. „Wenn wir Forschung nach vorne treiben wollen, müssen wir auch immer verstehen, wo wir herkommen und welche Lehren wir aus der Geschichte ziehen.“

Professorin Dr. Silke Schicktanz

Medizinethikerin an der Universität Göttingen

"Wir müssen noch viel stärker als bisher die globale Dimension unserer Forschung verstehen"

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„Ich hoffe für die nächsten zehn Jahre, dass wir noch weiter echte inter- und transdisziplinäre Forschungsstrukturen in unserem Forschungsbereich haben, die noch stärker auch eine internationale Vernetzung ermöglichen. Ich glaube, das ist der nächste Schritt, dass wir noch viel stärker als bisher die globale Dimension unserer Forschung verstehen müssen. Ich denke, die Corona-Pandemie hat uns das erste Mal wieder seit den letzten 50 Jahren vor Augen gespiegelt, dass die großen Probleme auch in der Gesundheitsforschung nicht sozusagen kleinteilige Versorgungsfragen sind, sondern die globale Vernetzung von Gesundheit und Krankheit. Da, glaube ich, müssen wir auch in unserer Forschung noch viel stärker hin – also die Perspektive weg von lokaler Versorgung hin zu globalen Fragen einer gerechten und auch ethisch akzeptablen Gesundheitsforschung und dann letztlich auch Umsetzung.“

Wie unterschiedlich neue Technologien im Kontext des globalen Nordens und des globalen Südens verstanden werden, untersuchte Schicktanz bei einem längeren Forschungsaufenthalt in Delhi gemeinsam mit indischen Kolleginnen und Kollegen. „Häufig haben wir hier zu pauschale Vorstellungen“, bilanziert sie. „Technik wird nicht überall gleich positiv gesehen, sie ist immer in ein gesellschaftliches Verhältnis eingebettet – und Gesellschaften können sehr unterschiedlich mit technischen Entwicklungen umgehen.“

Dieser Blick über den eigenen Tellerrand hat nicht nur Schicktanz wissenschaftliche Arbeit bereichert – die leidenschaftliche Köchin setzt am heimischen Herd in Göttingen gern auf Rezepte aus der levantinischen und indischen Küche. Hier, beim Gärtnern und in der Musik findet die 53-Jährige Zeit und Muße abseits eines oft fordernden Forschungsalltags. 

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützte zahlreiche Forschungsarbeiten von Schicktanz, die 2019 in die Zentrale Ethik-Kommission für Stammzellenforschung am Robert Koch-Institut berufen und im September 2022 zur Präsidentin der Akademie für Ethik in der Medizin gewählt wurde. Von 2018 bis 2022 leitete sie das Teilprojekt: „Ethische und gesellschaftliche Implikationen von Big Data-gestützter Medizin aus der Perspektive von Stakeholdern" innerhalb des HiGHmed-Konsortiums. HiGHmed ist eines von deutschlandweit vier Konsortien, die im Rahmen der nationalen Medizininformatik-Initiative durch das BMBF gefördert werden (http://www.medizininformatik-initiative.de). Auch hier erforschen u. a. Kliniker, Medizininformatiker und Medizinethiker, wie sich die Effizienz klinischer Forschung und die Patientenversorgung dank möglichst breiter Perspektive und Beteiligung verbessern lässt.

Die vom BMBF geförderte ELSA-Forschung setzt sich mit den ethischen, rechtlichen und sozialen Aspekten („Ethical Legal and Social Aspects“) der modernen Lebenswissenschaften auseinander. Eine im Jahr 2018 veröffentlichte Förderrichtlinie nahm die Themen Digitalisierung, Big Data und Künstliche Intelligenz in der Gesundheitsforschung und -versorgung besonders in den Blick. Hier koordinierte Schicktanz den Verbund „EIDEC – Ethische und soziale Aspekte co-intelligenter sensorgestützter Assistenzsysteme in der Demenzpflege“ (2020-2023).