Überreste von Viren im menschlichen Erbgut könnten bei neurodegenerativen Erkrankungen eine Rolle spielen. Zu diesem Schluss kommen Forschende des DZNE anhand von Laborstudien. In den viralen Relikten sehen sie mögliche Ansatzpunkte für Therapien.
Schon länger wird diskutiert, ob Virusinfektionen für neurodegenerative Erkrankungen bedeutsam sind. Laboruntersuchungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des DZNE deuten nun darauf hin, dass dies tatsächlich zutrifft und eine Infektion durch äußere Erreger dafür gar nicht notwendig ist: Die Übeltäter wären demnach „endogene Retroviren“, die im menschlichen Genom natürlicherweise enthalten sind. „Während der Evolution hat sich in unserer DNA das Genmaterial zahlreicher Viren angesammelt. Die meisten dieser Gensequenzen sind verstümmelt und normalerweise stummgeschaltet“, erläutert Professorin Dr. Ina Vorberg, Forschungsgruppenleiterin am DZNE in Bonn. „Es gibt jedoch Hinweise dafür, dass endogene Retroviren unter bestimmten Bedingungen aktiviert werden und zu Krebs und neurodegenerativen Erkrankungen beitragen. Im Blut oder Gewebe von Patientinnen und Patienten findet man nämlich Proteine oder andere Genprodukte, die von solchen Retroviren stammen.“
Experimente mit Tau-Aggregaten
Vorberg folgte dieser Spur gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus Bonn und München. Sie nahmen endogene Retroviren in den Blick, die – wie Studien nahelegen – bei „Frontotemporaler Demenz“ (FTD) und „Amyotropher Lateralsklerose“ (ALS) aktiviert sein können. An Zellkulturen simulierten die Forschenden die Situation, dass menschliche Zellen bestimmte Proteine aus der Hülle genau dieser Retroviren produzieren. Dabei stellte sich heraus, dass die viralen Eiweißstoffe den Transport sogenannter Tau-Aggregate von Zelle zu Zelle erleichtern – winzig kleine Proteinklumpen, die in den Gehirnen von Menschen mit neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer, ALS oder FTD vorkommen. „Die Verhältnisse im Gehirn sind natürlich viel komplexer als bei unserem zellulären Modellsystem. Dessen ungeachtet zeigen unsere Experimente, dass endogene Retroviren die Ausbreitung von Tau-Aggregaten zwischen Zellen beeinflussen können“, sagt Vorberg. „Endogene Retroviren wären damit zwar nicht Auslöser von Neurodegeneration, könnten den Krankheitsprozess jedoch befeuern, wenn dieser bereits in Gang gekommen ist.“
Virale Transportvermittler
Die aktuellen Untersuchungen und frühere Studien von Vorbergs Forschungsgruppe legen nahe, dass virale Proteine den Transport von Tau-Aggregaten vermitteln, indem sie sich in die Zellmembran und in die Membran „extrazellulärer Vesikel“ einnisten, kleinen Fettbläschen, die natürlicherweise von Zellen abgesondert werden. „Für den Transport von Tau-Aggregaten von Zelle zu Zelle sehen wir insbesondere zwei Übertragungswege. Den Transfer zwischen Zellen, die sich direkt berühren, und die Beförderung innerhalb von Vesikeln, die gewissermaßen als Cargokapseln dienen und von einer Zelle zu einer anderen gelangen, um schließlich mit dieser zu verschmelzen“, erläutert Vorberg. „In beiden Situationen müssen Membranen fusionieren. Proteine aus der Hülle von Viren können diesen Prozess unterstützen, weil viele Viren darauf ausgelegt sind mit Wirtszellen zu verschmelzen.“ Das geschieht mittels spezieller Proteine auf der Viren-Oberfläche. Würden just diese Proteine in die Zellmembran und die Membran von Tau-übertragenden Vesikeln eingebaut, sei es nachvollziehbar, wenn sich die Tau-Aggregate dann leichter verbreiten.
Angriffspunkte für die Therapie
Im Zuge des natürlichen Alterungsprozesses kann sich die Aktivität von Genen verändern – ursprünglich „schlafende“ endogene Retroviren könnten dadurch „erweckt“ werden. In der Tat treten die Symptome der meisten neurodegenerativen Erkrankungen erst im höheren Alter auf. Vor diesem Hintergrund sieht Vorberg verschiedene Therapieansätze: „Zum einen könnte man versuchen, die Genaktivität gezielt zu unterbinden und die endogenen Retroviren wieder zu inaktivieren. Man könnte aber auch an anderer Stelle ansetzen und versuchen, die viralen Oberflächenproteine zu neutralisieren – zum Beispiel mit Antikörpern.“
Fahndung nach Antikörpern
Genau solche Antikörper hofft die Bonner Forscherin im Organismus von Demenzkranken mit Tau-Aggregaten zu finden. Gelänge es, diese Antikörper zu isolieren und mit biotechnologischen Verfahren nachzubauen, ließe sich daraus vielleicht ein passiver Impfstoff entwickeln. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen des DZNE in Bonn und Berlin möchte sie daher bei Patientinnen und Patienten gezielt nach derartigen Antikörpern suchen. Auch antivirale Medikamente hält Vorberg für vielversprechend. In Zellkultur – so zeigte sich bereits – können solche Wirkstoffe die Ausbreitung von Protein-Aggregaten tatsächlich stoppen.
Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)
Das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) ist ein Forschungsinstitut für Erkrankungen des Gehirns und Nervensystems wie Alzheimer, Parkinson und ALS, die mit Demenz, Bewegungsstörungen und anderen schwerwiegenden Beeinträchtigungen der Gesundheit einhergehen. Ziel des DZNE ist es, neuartige Strategien der Vorsorge, Diagnose, Versorgung und Behandlung zu entwickeln und in die Praxis zu überführen. Dafür kooperiert es mit Universitäten, Universitätskliniken und anderen Institutionen im In- und Ausland. Das DZNE ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft und gehört zu den Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) eingerichtet wurden, um Maßnahmen gegen die wichtigsten Volkskrankheiten zu entwickeln. Es wird vom BMBF und den Bundesländern gefördert, in denen die Standorte des DZNE angesiedelt sind.
Weitere Informationen im Internet
unter www.dzne.de sowie auf Facebook
unter www.dzne.de/facebook
Originalpublikation:
Liu, S. et al. (2023). Reactivated endogenous retroviruses promote protein aggregate spreading, Nature Communications (2023), DOI: 10.1038/s41467-023-40632-z
Ansprechpartnerin:
Prof. Dr. Ina Vorberg
Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)
Venusberg-Campus 1/99
53127 Bonn
E-Mail: ina.vorberg@dzne.de
Pressekontakt:
Dr. Marcus Neitzert
Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)
Stabsstelle Kommunikation
E-Mail: marcus.neitzert@dzne.de