Von Mäusen und Menschen - Mausmodell „Diminuendo“ liefert neuen Erklärungsansatz für die Entstehung von Schwerhörigkeit

Schätzungsweise jeder sechste Mensch in Deutschland ist mehr oder weniger schwerhörig. Wissenschaftler am Helmholtz Zentrum München haben nun ein neues Mausmodell erstellt, an dem eine genetische Prädisposition zur Schwerhörigkeit nachgewiesen werden konnte.

Erstmals konnten die Wissenschaftler anhand dieses Modells zeigen, dass die microRNA, eine neue Klasse von Genen, Einfluss auf dieses Krankheitsbild nimmt. Die wissenschaftlichen Untersuchungen der vergangenen Jahre, deren Ergebnisse jetzt neue Wege für therapeutische Ansätze eröffnen, werden im Rahmen des Nationalen Genomforschungsnetzes (NGFN) unterstützt und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.


Nach Schätzungen des Deutschen Schwerhörigenbundes leiden hierzulande etwa 13 Millionen Menschen unter einer eingeschränkten Hörfähigkeit. Die meisten Hörprobleme sind das Resultat von beschädigten Strukturen im Innenohr: Die feinen Sinneshaarzellen sind so stark in Mitleidenschaft gezogen, dass die Weiterleitung von Schallwellen an die Hörnerven gestört ist. Dass es eine Reihe von Genen gibt, die im Zusammenhang mit Schwerhörigkeit stehen, ist schon seit längerem bekannt. Wissenschaftler am Helmholtz Zentrum München haben jetzt einen neuen Erklärungsansatz für die Entstehung von Schwerhörigkeit gefunden. Auf die Spur sind die Forscher unter anderem durch Mäuse gekommen, die an einer erblichen Form der Schwerhörigkeit leiden. Erstmals konnte gezeigt werden, dass die microRNA, eine neue Klasse von Genen, Einfluss auf dieses Krankheitsbild nimmt.

Eine winzige genetische Veränderung führt zur Schwerhörigkeit
Auf Basis früherer Erkenntnisse haben die Münchner Forscher unter der Leitung von Prof. Dr. Martin Hrabé de Angelis, Direktor des Instituts für Experimentelle Genetik, ein Mausmodell mit einer genetischen Variante entwickelt, bei der eine einzelne Base eines spezifischen microRNA-Abschnitts verändert ist. Das neue Mausmodell heißt „Diminuendo“, benannt nach dem musikalischen Fachbegriff für „leiser werdend“. Professor Hrabé de Angelis erläutert den Hintergrund: „Wir haben Mäuse gezüchtet, bei denen eine einzelne Base in just dem micro- RNA-Abschnitt miR-96 verändert ist, der entscheidend für die Bindung an die Zielsequenz ist – mit dem Resultat, dass diese Mäuse mit dem Alter zunehmend an Schwerhörigkeit leiden. Das Gen miR-96 ist ein kleines RNA-Fragment, das sich auf die Erzeugung von Molekülen innerhalb der Sinneshaarzellen im Innenohr auswirkt. Die genetische Variante im Mausmodell verursacht eine Beeinträchtigung dieser Zellen und schließlich den Verlust der Hörfähigkeit.“ Tragen Mäuse gar zwei Kopien der Genvariante, sind die Sinneshaarzellen der Maus von Geburt an geschädigt.

Grundlage für neue therapeutische Ansätze
„Wir gehen davon aus, dass unser Mausmodell für die Entwicklung von Therapieansätzen gegen die genetisch bedingte Schwerhörigkeit beim Menschen zukünftig weitreichende Bedeutung haben wird“, sagt Dr. Helmut Fuchs, geistiger Vater des Mausmodells und wissenschaftlicher Leiter der „Deutschen Mausklinik“ am Helmholtz Zentrum München. Die „Deutsche Mausklinik“ ist unter der Federführung des NGFN entstanden und wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Entscheidend ist nun, dass nicht nur bei der Maus solche Auswirkungen einer veränderten microRNA auftreten - auch beim Menschen beeinflusst der entsprechende microRNA-Abschnitt die Produktion der Sinneshaarzellen im Innenohr. Inzwischen haben spanische Wissenschaftler in ersten Untersuchungen an schwerhörigen Patienten eine Bestätigung dafür gefunden, dass bei bestimmten Patienten tatsächlich derselbe microRNA-Abschnitt wie im Mausmodell verändert ist. Ziel der weiteren Forschungen ist es jetzt, Faktoren zu identifizieren, die für ein langes Überleben von Sinneshaarzellen notwendig sind. Das könnte dann ganz neue Behandlungsmöglichkeiten bei Schwerhörigkeit eröffnen.

Die „Deutsche Mausklinik“
Die „Deutsche Mausklinik“ (German Mouse Clinic) ist eine Diagnoseklinik, in der mutante, das heißt genetisch veränderte, Mäuse unter standardisierten Bedingungen charakterisiert werden, um Modelltiere für genetisch bedingte menschliche Krankheiten zu finden und so diese Krankheiten besser zu verstehen. In der „Deutschen Mausklinik“ werden Mausmodelle aus der ganzen Welt auf ihre Veränderungen und ihren Nutzen für die Medizin untersucht. Mutante Mäuse stammen z. B. aus dem Münchner „ENU-Mutagenese-Screen“. Dabei wird männlichen Mäusen Ethylnitrose-Harnstoff (ENU) verabreicht, der das Erbgut ihrer Spermien beeinflusst. Nachfolgegenerationen können entweder dominante oder rezessive Mutationen entwickeln. Die Forscher suchen gezielt nach Mutanten unter den Nachkommen. Die identifizierten Mausmodelle lassen oft Rückschlüsse auf die Genese von erblich bedingten Krankheiten beim Menschen zu.

Ansprechpartner:
Prof. Dr. Martin Hrabé de Angelis
Institut für Experimentelle Genetik
Helmholtz Zentrum München
Ingolstädter Landstraße 1
85764 München/Neuherberg
Tel.: 089 3187-3302
Fax: 089 3187-3500
E-Mail: hrabe@helmholtz-muenchen.de