Juni 2023

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Wenn Ängste zum Alltagsbegleiter werden

Ein neuer Ansatz in der Expositionstherapie könnte Menschen mit Angststörungen schneller zu mehr Lebensqualität verhelfen – entwickelt und in einer Studie überprüft wurde er im BMBF-geförderten Forschungsverbund PROTECT-AD.

Eine Person drückt mit dem Zeigefinger auf einen Aufzugknopf

Manche kann er gar nicht hoch genug befördern, für Menschen mit einer Angststörung kann die Fahrt mit einem Aufzug allerdings zur unüberwindlichen Schwelle werden. Die bei PROTECT-AD entwickelte Expositionstherapie kann hier Hilfe bringen.

Jaboo_foto/Adobe Stock

Angst kann Leben retten: Sie warnt uns vor möglichen Gefahren und sorgt dafür, dass wir uns in unterschiedlichsten Situationen schützen. Überzogen starke Angstreaktionen auf Reize aber, die die meisten Menschen nicht gefährlich finden – zum Beispiel Gespräche mit unbekannten Menschen, die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, große Menschenansammlungen oder eine extreme Aversion gegen bestimmte Tierarten –, können zu einem großen Problem werden. Betroffene erkennen vielleicht, dass ihre Angst unangemessen oder unbegründet ist, können sie aber weder ausschalten noch kontrollieren. Herzrasen, Schweißausbrüche, Atemnot und Panikattacken werden dann zum ungebetenen Begleiter im Alltag. Sie bringen Betroffene dazu, bestimmte Situationen zu meiden und sich im Extremfall ganz aus dem sozialen Leben zurückzuziehen; es kommt zu erheblichen Beeinträchtigungen im privaten wie im beruflichen Leben.

In Deutschland sind neuesten Zahlen zufolge etwa 21 von 100 Frauen und 9 von 100 Männern im Alter von 18 bis 79 Jahren einmal im Jahr von Angststörungen betroffen. Mit einer Expositionstherapie sind Angststörungen gut behandelbar: Unter therapeutischer Anleitung stellen sich Betroffene ihren Ängsten und setzen sich ganz bewusst angstauslösenden Situationen aus, die sie zuvor lange vermieden hatten.

Expositionstherapie

Die Therapie von Angststörungen zielt darauf ab, Angstsymptome zu lindern und Betroffene zu unterstützen, ihr Schneckenhaus zu verlassen und wieder aktiv am Leben teilzunehmen. Die Expositions- oder Konfrontationstherapie ist Teil einer umfassenden kognitiven Verhaltenstherapie und wird intensiv durch den Therapeuten oder die Therapeutin begleitet. Gezielt setzen sich Betroffene dem angstauslösenden Objekt oder der angstauslösenden Situation aus, was anfangs zu starken körperlichen Reaktionen führen kann. In der Regel lassen die Angstgefühle mit der Zeit aber nach. Die Betroffenen merken, dass sie in der Lage sind, sich ihren Ängsten zu stellen, ohne dass katastrophale Folgen eintreten. Dank dieser Erfahrungen in der Therapie können sie ihre Angstprobleme zukünftig selbst bewältigen.

Ob eine neue Form der Expositionstherapie die Versorgung Betroffener langfristig deutlich verbessern kann, untersuchten jetzt sieben universitäre Forschungsambulanzen, die über besondere Expertise in der Angstpsychotherapie verfügen. Die Federführung lag beim Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Technischen Universität Dresden. Leiter der Therapiestudie, die mit finanzieller Förderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Forschungsverbundes PROTECT-AD durchgeführt wurde, ist Professor Dr. Jürgen Hoyer, Inhaber des Lehrstuhls für Behaviorale Psychotherapie. Weiterhin beteiligt waren Kooperationspartner aus der psychotherapeutischen Praxis, Supervisorinnen und Supervisoren sowie Krankenkassen. PROTECT-AD ist eines von neun Verbundvorhaben des Forschungsnetzes psychische Erkrankungen.

Hoyer und seinem Team stellten sich drei Fragen: Wie gut wirkt die bei PROTECT-AD entwickelte Form der Expositionstherapie? Wirkt eine zeitlich intensivierte Form dieser Therapie besser? Welche Nebenwirkungen gibt es bei beiden Therapieformen?

Neuer Ansatz bei der Exposition: Befürchtungen nicht nur mindern, sondern korrigieren

„Die grundsätzliche Wirksamkeit der Exposition ist belegt, aber unsere Forschung bemüht sich, diese Methode weiter zu optimieren und Behandlungserfolge zu erhöhen“, beschreibt Hoyer. Die Standardtherapie konfrontiert Patientinnen und Patienten mit ihren Ängsten und senkt diese Schritt für Schritt – Betroffene beispielsweise, die Angst vor der Nutzung eines Busses haben, werden von ihren Therapeuten wiederholt bei Busfahrten begleitet, bis die Angst abgenommen hat. Die Therapeutinnen und Therapeuten in PROTECT-AD dagegen setzten schon vor der eigentlichen Exposition an und planten die Expositionsübungen so, dass die Betroffenen gezielt ihre spezifisch-persönlichen Befürchtungen korrigieren konnten. „Dieser starke Fokus auf die Widerlegung von Befürchtungen wird in der traditionellen Expositionstherapie nicht gelegt“, so Hoyer, „daher haben wir untersucht, ob unsere Art der Behandlung gut oder sogar wirksamer ist.“ Tatsächlich funktioniere eine expositionsbasierte Therapie umso besser, je stärker es den Patientinnen und Patienten gelinge, ihre negativen Erwartungen aufgrund therapeutisch angeleiteter neuer Erfahrungen zu verändern. „Ein entscheidender Punkt dabei: Es reicht nicht, einfach nur die Erwartungen in einer Expositionsübung zu widerlegen – die Patientinnen und Patienten müssen vielmehr ihre Erwartungen auch für zukünftige Situationen korrigieren“, so Hoyer.

Porträt Prof. Dr. Hoyer

Prof. Dr. Hoyer

Dirk Poetsch

Neben einer Neuausrichtung vorhandener Therapieansätze wurden deshalb neue Arbeitsblätter und therapeutische Instruktionen entwickelt, die im Herbst dieses Jahres auch als Therapiemanual veröffentlicht werden sollen. „Therapieerfolg heißt für uns, dass die Patientinnen und Patienten erleben, dass in den gefürchteten Situationen keine Katastrophen eintreten und dass sie die Situation bewältigen können – egal ob mit oder ohne Angst. Dann müssen sie solche Situationen in Zukunft trotz unangenehmer Gefühle nicht mehr vermeiden“, sagt Hoyer.

Ein zweiter Aspekt der Studie betraf die zeitliche Verdichtung der Expositionsübungen – untersucht wurde, ob eine intensivierte Exposition von drei Sitzungen pro Woche im Vergleich zu einer Standard-Exposition von einer Sitzung pro Woche einen besseren und schnelleren Therapieerfolg erzielen kann. Zuvor waren die knapp 700 Teilnehmenden mit unterschiedlichen Angststörungen nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen eingeteilt worden.

„Wie erwartet zeigten sich in beiden Untersuchungsgruppen nach Abschluss der Therapie sehr große Verbesserungen in allen untersuchten Bereichen: Die Symptome der Angst und die Beeinträchtigung hierdurch konnten deutlich reduziert und die Lebensqualität konnte deutlich verbessert werden“, bilanziert Hoyer. Zudem habe sich gezeigt, dass eine zeitliche Verdichtung der Therapie die Leidenszeit der Betroffenen verkürzt und ihre Lebensqualität noch stärker verbessert als in der Vergleichsgruppe. In der Intensivgruppe seien darüber hinaus weniger Therapieabbrüche während der Expositionsphase verzeichnet worden.

Sehr viel mehr positive als negative Nebenwirkungen bei der Therapie

Fast alle Patientinnen und Patienten (94 %) vermerkten bei der Nachbefragung sechs Monate nach der Behandlung zudem positive Nebenwirkungen der Therapie, am häufigsten einen allgemein besseren seelischen Zustand (88 %) und weniger Leiden unter der Vergangenheit (58 %). „Insgesamt sind die positiven Nebenwirkungen im Durchschnitt etwa 40-mal stärker als die negativen Effekte“, nennt Hoyer ein weiteres Ergebnis der Studie. Sowohl die standardisierte als auch die intensivierte Therapie seien mit 8 bis 9 Punkten auf einer Skala von 0 bis 10 als gleich sinnvoll, zufriedenstellend und erfolgreich beurteilt worden, wenn auch für die intensivierte Therapie etwas mehr Nebenwirkungen berichtet worden seien.

„Interessant war auch, dass die Glaubwürdigkeit und Zufriedenheit mit beiden Therapieformen nach Beginn der Expositionsübungen noch zunahm“, so Hoyer. „Wir schließen daraus, dass intensivierte Therapien durchaus mit einer etwas höheren Belastung verbunden sein können, die Patientinnen und Patienten aber verstehen, dass dies für den Behandlungserfolg nützlich sein kann.“

Win-win-Situation nicht nur für Angstpatientinnen und -patienten

Beide Formen der bei PROTECT-AD überprüften Expositionstherapie konnten die Symptomschwere und mit Ängsten einhergehenden Beeinträchtigungen substanziell verringern; die zeitlich intensivierte Exposition habe dennoch einen weiteren Vorteil. „In der Routineversorgung dauert die Behandlung von Angststörungen oft mehrere Monate bis Jahre, mit intensivierten Expositionssitzungen aber lässt sich das Leiden deutlich schneller reduzieren “, betont Hoyer. „Wir helfen Patientinnen und Patienten, die Umwelt wieder frei und offen zu entdecken und aktiv herauszufinden, wie die Dinge wirklich sind.“ Dieser Ansatz hat positive Folgen zunächst für die Betroffenen selbst, aber auch für das Gesundheitswesen: Dank einer schnelleren Rückgewinnung von Lebensqualität entstehen weniger Fehltage im Beruf und werden Gesundheitskosten gesenkt.

Originalpublikationen:
Pittig, A., Heinig, I., Goerigk, S., et al. (2021). Efficacy of temporally intensified exposure for anxiety disorders: A multicenter randomized clinical trial. Depression and Anxiety, 1–13. DOI: 10.1002/da.23204

Heinig, I., Knappe, S., Hoyer, J., et al. (2022). Effective – and Tolerable: Acceptance and Side Effects of Intensified Exposure for Anxiety Disorders. Behavior Therapy. DOI: 10.1016/j.beth.2022.11.001

Ansprechpartner:
Prof. Dr. Jürgen Hoyer und Dr. Ingmar Heinig
Technische Universität Dresden
Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie
Professur für Behaviorale Psychotherapie
Universitätsambulanz und Forschungszentrum für Psychotherapie (UFP)
Hohe Straße 53
01187 Dresden
E-Mail: juergen.hoyer@tu-dresden.de