Husten, Niesen, Schnäuzen. Im Winter ist das unweigerlich die Geräuschkulisse in Schulen und Kindergärten. Jedes Kind erkrankt im Durchschnitt mindestens einmal in der kalten Jahreszeit an einem Infekt. Das ist normal und für die meisten Kinder sogar wichtig, damit ihr Immunsystem reifen kann. Aber es gibt Kinder, für die jeder Infekt einem Todeskampf gleicht. Im Centrum für Chronische Immundefizienz (CCI) kann solchen Kindern geholfen werden. (Newsletter 67 / April 2014)
Alles begann in Kanada. Dr. Marlies Schroeder, Kinderärztin im kanadischen Winnipeg, beobachtete, dass einige Säuglinge eines indianischen „First-Nations“-Stammes, der Northern Cree, mit ähnlichen Symptomen in ihr Krankenhaus kamen. Kleinste Infekte verursachten bei den Kindern schwere Erkrankungen. Schroeder vermutete, dass sie an einer seltenen Form einer schweren Abwehrschwäche leiden. Alles deutete darauf hin, dass es sich bei dieser Erkrankung um eine Form von „SCID“ handeln muss.
Wenn man Erregern wehrlos ausgeliefert ist
Aufwendige Tests im Labor des CCI halfen, die Ursache für die Abwehrschwäche zu finden.SCID, das ist keine Figur aus einem neuen Animationsfilm. Nein, es ist die Abkürzung, die Mediziner benutzen, wenn sie über schwerwiegende kombinierte Immundefekte sprechen. SCID steht für den englischen Begriff „severe combined immunodeficiency“. Das sind Krankheiten, bei denen das Abwehrsystem der Betroffenen aus unterschiedlichen Gründen sehr stark geschwächt ist. Die Patientinnen und Patienten sind dabei Infektionen jedweder Art wehrlos ausgeliefert. Typischerweise erkranken vor allem Kinder dabei schon in ihren ersten Lebensmonaten. Es gibt auch leichtere Immundefekte, bei denen die gesteigerte Infektanfälligkeit erst später, manchmal sogar erst im Erwachsenenalter offensichtlich wird. Weltweit leiden insgesamt sechs Millionen Kinder an solchen Immundefekten. Jede Ansteckung mit harmlosen Keimen bedeutet für diese Kinder eine Gefahr, im Falle von SCID sogar eine Lebensgefahr. Die Ursachen, warum das Abwehrsystem der kleinen Patienten nicht funktioniert, sind unterschiedlich. Oft ist der Verursacher ein veränderter Abschnitt im Erbmaterial, der solche schwerwiegenden Folgen hat. Für SCID sind inzwischen mehr als 250 Gene bekannt, bei denen Veränderungen Immundefekte hervorrufen. Die Erforschung dieser Erkrankungen wird allerdings dadurch erschwert, dass es sich im Einzelfall um eine seltene Krankheit handelt. In Deutschland ist beispielsweise bei circa 50.000 Geburten ein Säugling von einer Form der SCID-Erkrankung betroffen.
Laborwerte ohne Befund
Doch leiden die Säuglinge der Northern Cree in Kanada auch an einer Form von SCID? Sie erkranken schon im ersten Lebensjahr an schwersten Infekten, obwohl ihre Abwehrzellen laut den bislang in solchen Fällen gemessenen Laborwerten unauffällig waren. Zwei Tatsachen, die nicht zusammenpassen wollten und die eine Behandlung der Kinder erschwerte. Die kanadische Ärztin bat deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Ulm und Freiburg, die im Centrum für Chronische Immundefizienz (CCI) zusammenarbeiten, um Hilfe. An diesem Zentrum erforschen weltweit anerkannte Experten die Gründe für angeborene und erworbene Abwehrschwäche. Gefördert werden sie vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF).
Lebensgefährliche Mutation
Vier Arbeitsgruppen aus Ulm und Freiburg untersuchten das Erbmaterial der Säuglinge nach Auffälligkeiten – und sie wurden fündig. Mittels aufwendiger Analysen, in denen sie das Erbgut der Säuglinge und ihrer Familien miteinander verglichen, fanden sie einen besonderen Abschnitt, der bei allen erkrankten Kindern verändert ist. Dieses Gen beinhaltet den Bauplan für ein bestimmtes Eiweiß, das IKK2-Protein. Es reguliert die grundlegende Aktivität unseres Abwehrsystems bei Infekten. Wird es nicht gebildet, was bei den Säuglingen offensichtlich der Fall ist, können entscheidende Signale unserer Abwehr nicht weitergeleitet werden. „Bis zum heutigen Tage wurden keine Erkrankungen beim Menschen beschrieben, die auf einer Veränderung dieses Gens beruhen. Wir gingen deshalb bisher davon aus, dass eine Veränderung in diesem Gen nicht mit dem Leben vereinbar ist. Aktuelle Tiermodelle bekräftigten unsere Annahme“, sagt Dr. Klaus Schwarz. Er ist Mitglied im CCI und leitet die Abteilung Molekulare Diagnostik, Molekulare Therapie und Experimentelle Transplantation am Institut für Klinische Transfusionsmedizin und Immungenetik Ulm. Das Institut wird vom Blutspendedienst des Deutschen Roten Kreuzes Baden-Württemberg − Hessen und der Universität Ulm gemeinsam getragen.
Im CCI arbeiten Klinik und Labor eng zusammen. So können betroffene Kinder gezielt behandelt werden.
Transplantation gesunder Abwehrzellen soll Kindern helfen
Man muss wissen: Unser Abwehrsystem besteht aus zwei aufeinander aufbauenden Systemen, dem angeborenen und dem erworbenen Immunsystem. Das erworbene Immunsystem bilden wir erst im Laufe unseres Lebens. Mit jedem Infekt lernt unser Körper dazu, wie er sich wehren kann. Impfungen nutzen genau diesen Teil unseres Abwehrsystems. Diese erworbene Abwehr greift aber nur, wenn das angeborene Immunsystem, das uns von Geburt an schützt, funktioniert. Die Säuglinge des Northern-Cree-Stammes sind deshalb jedem Infekt so ohnmächtig ausgeliefert, weil bei ihnen schon diese angeborene Abwehr durch das fehlende IKK2-Protein geschwächt ist. Behandeln kann man einen solchen Mangel, indem man den Betroffenen gesunde Abwehrzellen überträgt – beispielsweise mittels einer Stammzelltransplantation. „Durch unser Ergebnis können wir die kleinen Patienten in Kanada nun gezielt behandeln“, erklärt Professor Dr. Stephan Ehl, Direktor des CCI in Freiburg. Ein erstes Kind der Northern Cree ist bereits erfolgreich transplantiert worden.
Aber wir haben auch viel über unser Abwehrsystem gelernt“, fügt Ehl hinzu. Das Abwehrsystem kann nicht nur geschwächt sein, wie hier bei den Säuglingen. Ganz im Gegenteil: Es kann paradoxerweise sogar bei Immundefekten auch überreagieren. Das führt zu Allergien und Autoimmunkrankheiten, Vergrößerung von Milz und Lymphdrüsen, aber auch zu chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen oder schweren Ekzemen. Hier kämpft unser Abwehrsystem nicht für, sondern gegen uns. Würde man es schaffen, das Abwehrsystem an der passenden Stelle zu bremsen, wäre den Betroffenen viel geholfen. Das IKK2-Protein ist möglicherweise ein geeigneter Angriffspunkt für neue Medikamente. Zurzeit werden genau solche Substanzen entwickelt und erprobt.
Das Konzept des CCI wurde von der Allianz Chronischer seltener Erkrankungen, kurz ACHSE e.V. gemeinsam mit der central Krankenversicherung für den achse-central-Preis 2014 nominiert. Das Konzept hat die Jury überzeugt, da es sich um eine etablierte Einrichtung handelt, die interdisziplinär arbeitet und eine Behandlung für alle Altersstufen anbietet.