Hermann S. liegt in der Röhre des Kernspintomographen, über ihm hängt ein Monitor. Dort laufen Bilder von Straßen, Kreuzungen und Häusern. Hermann S. bewegt sich durch die fremde Stadt - und der Kernspin nimmt während des virtuellen Spazierganges Schnittbilder seines Gehirns auf.
Hermann S. liegt in der Röhre des Kernspintomographen, über ihm hängt ein Monitor. Dort werden Bilder von Straßen, Kreuzungen, Mauern und Häusern gezeigt – so als bewege sich Hermann S. durch eine fremde Stadt. Das ganze gleicht einem modernen Computerspiel. Der Kernspintomograph nimmt während des virtuellen Spazierganges Schnittbilder vom Gehirn auf. „Die Bilder geben uns Auskunft darüber, welche Hirnregionen aktiv sind, wenn wir versuchen, uns in einer unbekannten Umgebung zu orientieren“, erläutert der Diplom-Psychologe Thomas Wolbers vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Er ist einer der Initiatoren des Forschungsprojektes, an dem Hermann S. und 16 andere gesunde Freiwillige teilnehmen. Alle Testpersonen wiederholen denselben virtuellen Spaziergang sechsmal. Nach jedem Durchgang beantworten sie Fragen zur virtuellen Stadt: etwa wie man von Punkt A nach Punkt B kommt. Am Ende der Untersuchung zeichnen sie aus dem Gedächtnis einen Stadtplan. Die Forschungsarbeiten sind Teil des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschungsverbundes „NeuroImage Nord“.
Geschwindigkeit, Distanzen und Wegmarken verknüpfen
Warum sind diese Untersuchungen so wichtig? „Viele Menschen mit Hirnerkrankungen, etwa einem Schlaganfall, haben Schwierigkeiten, sich räumlich zu orientieren. Wir wissen bisher aber nur sehr wenig darüber, welche Hirnschädigungen zu solchen Orientierungsstörungen führen“, erläutert Wolbers. Mit der Hilfe von Hermann S. und den anderen Freiwilligen konnte das Forscherteam einige Wissenslücken schließen.
Offensichtlich spielen zwei Hirnregionen – der retrospleniale Kortex und der Hippokampus – für die räumliche Orientierung eine entscheidende Rolle: Der retrospleniale Kortex, ein Areal im hinteren Teil des Gehirns, ist wichtig für die Navigation. Versuchspersonen, bei denen diese Region während des virtuellen Spazierganges sehr aktiv war, konnten die Orientierungsaufgaben nach der Untersuchung besonders gut lösen. „Wir vermuten, dass der retrospleniale Kortex verschiedene Arten von Informationen miteinander verknüpft, die für die räumliche Orientierung wichtig sind. Dazu gehören Informationen über unsere Geschwindigkeit, über die Distanzen und über charakteristische Wegmarken“, erklärt Wolbers.
Der retrospleniale Kortex sortiert die Daten und leitet sie an den Hippokampus weiter. Der liegt an der Basis des Gehirns. In den Versuchen am Hamburger Universitätsklinikum war diese Hirnregion umso aktiver, je mehr neues Wissen über das Stadtbild erworben worden war. Während der ersten Spaziergänge, bei denen die Studienteilnehmer besonders viel Neues lernen mussten, war der Hippokampus sehr beschäftigt. Später, als die Versuchpersonen sich in der virtuellen Stadt schon gut zurechtfanden, nahm die Aktivität dort wieder ab. „Der Hippokampus nimmt die Informationen auf, die ihm vom retrosplenialen Kortex geliefert werden, und baut sie in seine Landkarte ein”, schlussfolgert Wolbers. „Anhand dieser Landkarte bewegen wir uns in unserer Welt.” Der Hippokampus ist auch an zahlreichen anderen Gedächtnisleistungen beteiligt, zum Beispiel am Lernen eines Gedichtes.
Nicht jeder kann sich orientieren Die Ergebnisse werfen aber auch neue Fragen auf. Das Orientierungsvermögen der Menschen unterscheidet sich beträchtlich. Einige Studienteilnehmer fanden sich auch nach sechs Spaziergängen durch die virtuelle Stadt kaum in ihr zurecht. Außerdem gibt es das Phänomen, dass Distanzen, die eigentlich gleich sind, als unterschiedlich lang wahrgenommen werden. Wolbers: „Alles was im eigenen Kiez liegt, erscheint meistens wesentlich näher als der Straßenzug im Nachbarbezirk, obwohl die Entfernung dorthin vielleicht sogar kürzer ist.“ Wie solche Verzerrungen der Landkarten im Gehirn zustande kommen, wissen die Forscher nicht – noch nicht.
Ansprechpartner:
Dipl.-Psych. Thomas Wolbers
NeuroImage Nord
Abteilung für Neurologie am
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Martinistraße 52
20246 Hamburg
Tel.: 040/42803-5778
Fax: 040/42803-9955
E-Mail: wolbers@uke.uni-hamburg.de