Forschungsergebnisse des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) deuten auf eine mögliche Ursache für Störungen der räumlichen Orientierung hin. Das könnte den Weg für eine frühe Diagnose von Alzheimer bereiten.
Beeinträchtigungen der räumlichen Orientierung treten insbesondere bei älteren Menschen auf. Solche Probleme sind nicht nur lästig, mitunter beeinflussen sie sogar die Lebensweise. „Orientierungsstörungen können verunsichern. Betroffene neigen unter Umständen dazu, ihren Aktionsradius auf vertraute Umgebungen begrenzen. Im Extremfall kann das so weit gehen, dass es ihnen unangenehm ist, ihre Wohnung zu verlassen“, sagt Professor Thomas Wolbers, Forschungsgruppenleiter am DZNE in Magdeburg. „Das beschränkt die Mobilität und soziale Kontakte, geht also zulasten der Lebensqualität.“
Um uns gezielt durch den Raum zu leiten, muss das menschliche Gehirn eine Flut an Informationen bewältigen: Die Bandbreite reicht von visuellen Reizen bis hin zu Signalen der Muskulatur und des Gleichgewichtssinns. Wichtig dafür sind spezielle Hirnzellen. „Sie funktionieren wie eine Art GPS. Manche verarbeiten Geschwindigkeitsdaten, andere Informationen über die räumliche Position“, so Wolbers, „Gemeinsam erstellen alle diese Zellen ein mentales Abbild der Umgebung. Für eine gezielte Fortbewegung muss diese geistige Landkarte mit dem Datenstrom der Sinnesorgane ständig abgeglichen werden. Das ist eine komplexe Aufgabe. Dabei können durchaus Fehler passieren.“
„Wir hatten die These, dass insbesondere sogenannte Gitterzellen bei Orientierungsstörungen eine Rolle spielen könnten. Denn sie sind von zentraler Bedeutung für die Datenverarbeitung, die für die Navigation erforderlich ist“, sagt Matthias Stangl, Doktorand am DZNE-Standort Magdeburg.
Tests in virtuellen Welten und im realen Raum
Die Magdeburger Forscherinnen und Forscher untersuchten daher das Orientierungsvermögen von insgesamt 41 Männern und Frauen in diversen Experimenten. Die Studienteilnehmenden waren in zwei nahezu gleich große Gruppen aufgeteilt: die „jungen Erwachsenen“ (Alter zwischen 19 und 30 Jahren) und die „älteren Erwachsenen“ (Alter zwischen 63 und 81 Jahren). Je nach Versuchsaufbau bewegten sich diese Probanden entweder durch virtuelle, vom Computer generierte Schauplätze oder im realen Raum. Dort hatten sie die Aufgabe, sich die Lage von Objekten zu merken oder ihre Position relativ zum Ausgangspunkt ihrer Bewegung einzuschätzen. Ein Teil der Experimente, die sich digitaler Szenarien bedienten, fanden im Magnetresonanztomografen statt. So konnte per funktioneller Bildgebung die Hirnaktivität der Versuchspersonen gemessen werden.
Instabile Aktivität von Gitterzellen
„Unterm Strich haben junge Probanden bei der Navigation besser abgeschnitten. Das deckt sich mit früheren Studien. Wir haben aber noch Weiteres festgestellt: einen Zusammenhang zwischen verminderter Navigationsleistung und Defiziten in der Aktivität der Gitterzellen“, sagt Wolbers. In der Aktivität dieser Zellen zeigten sich Unterschiede zwischen den Studiengruppen. Insbesondere waren die Aktivitätsmuster der Gitterzellen bei älteren Versuchsteilnehmenden instabiler. „Dies ist ein Hinweis dafür, dass diese Hirnbereiche beeinträchtigt sind. Solche Störungen könnten eine Ursache dafür sein, dass im Alter verstärkt Probleme mit der räumlichen Orientierung auftreten.“
Gitterzellen sind an verschiedenen Hirnfunktionen beteiligt. Die Studienergebnisse aus Magdeburg könnten daher nicht nur für die Navigation von Bedeutung sein. Wolbers: „Möglicherweise haben wir einen Schlüsselmechanismus gefunden – einen Mechanismus, der diversen kognitiven Beeinträchtigungen zugrunde liegt, die sich im Alter bemerkbar machen. Das könnte eine Grundlage sein für neue Ansätze in der Diagnose und Therapie von neurodegenerativen Erkrankungen.“
Früherkennung von Demenz?
Anknüpfungspunkte gäbe es insbesondere für die Demenzforschung, so Wolbers: „Heute verfügen wir über standardisierte Tests der Gedächtnisleistung. Für den Orientierungssinn gibt es bislang nichts Vergleichbares. Dabei könnte eine spezialisierte Diagnostik des Orientierungssinns helfen, Alzheimer früher zu erkennen, als es heute üblich ist. Denn diese Erkrankung schädigt Hirnregionen, die für die Navigation von Bedeutung sind. Man geht davon aus, dass schon im Anfangsstadium gewisse Orientierungsstörungen auftreten können.“
Voraussetzung sei es, alterstypische Veränderungen von einem krankheitsbedingten Rückgang der Navigationsfähigkeit unterscheiden zu können. Wolbers: „An dieser Fragestellung arbeiten wir. Hier sehen wir großes Potenzial im Einsatz virtueller Realität. Bei Gedächtnistests gilt es, standardisierte Aufgaben zu lösen. Analog dazu könnte man sich Navigationsaufgaben vorstellen, die in einer computergenerierten Umgebung zu meistern wären. Eventuell mithilfe von Joystick und virtueller Realität.“
Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)
Das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e. V. (DZNE) erforscht die Ursachen von Erkrankungen des Nervensystems und entwickelt Strategien zur Prävention, Therapie, Pflege und Patientenversorgung. Durch seine zehn Standorte (Berlin, Bonn, Dresden, Göttingen, Magdeburg, München, Rostock/Greifswald, Tübingen, Ulm und Witten) bündelt das DZNE exzellente, über Deutschland verteilte Expertise innerhalb einer einzigen Forschungseinrichtung. Zugleich kooperiert es eng mit Universitäten, deren Kliniken und außeruniversitären Einrichtungen.
Das DZNE ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft und gehört zu den Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) zur Bekämpfung der wichtigsten Volkskrankheiten eingerichtet wurden. Es wird vom BMBF und Bundesländern gefördert, in denen die Standorte des DZNE angesiedelt sind.
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Originalarbeiten
„Compromised grid-cell-like representations in old age as a key mechanism to explain age-related navigational deficits“, Matthias Stangl et al., Current Biology (2018), DOI: 10.1016/j.cub.2018.02.038
„The Aging Navigational System“, Adam W. Lester et al., Neuron (2017), DOI: 10.1016/j.neuron.2017.06.037
Ansprechpartner:
Professor Thomas Wolbers
Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)
Leipziger Straße 44
39120 Magdeburg
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