Gerade ältere Menschen, die an mehreren Krankheiten leiden, nehmen oft verschiedene Medikamente zugleich ein. Rostocker Forschende wollen die Medikationspläne individuell so gestalten, dass nicht mehr Wirkstoffe als nötig verabreicht werden.
„Morgens die kleine grüne und die runde gelbe für das Herz, mittags die beiden eckigen, damit die Gelenke nicht mehr wehtun, und abends noch zwei große, eine blaue und eine rote, und noch die bunte Kapsel – wofür war die noch mal?“ Frau Müller überlegt kurz, dann schüttelt sie den Kopf: „Ach ja, das ist ja die fürs Blut.“ Insgesamt sechs unterschiedliche Medikamente nimmt Frau Müller über den Tag verteilt ein. In der Medizin spricht man dabei von Polypharmazie. Dieses Fremdwort beschreibt den Zustand, dass täglich mehr als fünf verschiedene Medikamente eingenommen werden. Das kommt häufiger vor, als man denkt. Rheuma, Herzschwäche und Diabetes – im Alter kommt eine Erkrankung selten allein. Viele ältere Menschen schlucken eine Reihe unterschiedlicher Medikamente. In einigen Regionen Deutschlands kommt es sogar vor, dass über 60-Jährige im Durchschnitt bis zu zwölf Medikamente verschrieben bekommen. Nicht jeder Erkrankte kann sich dabei so gut merken wie Frau Müller, wofür oder wogegen welches Medikament ist. Fraglich ist dabei manchmal auch, ob „viel“ in jedem Fall auch „viel“ hilft. So gibt es Studien, die zeigen, dass sich kranke, ältere Menschen oft besser fühlen, wenn Sie weniger Medikamente einnehmen. Doch welche Wirkstoffe kann man gefahrlos weglassen? Es ist klar, dass der Patient oder die Patientin diese Frage nicht selbst entscheiden kann.
Jede einzelne Medikationsliste wird sorgfältig überprüft
An der Rostocker Universitätsmedizin läuft nun seit über einem Jahr eine Studie, welche die Medikation bei älteren, mehrfach erkrankten Menschen im Blick hat. Das Ziel: unangemessene Polypharmazie zu reduzieren. Der neue Ansatz ist dabei: Pharmazeutinnen und Pharmazeuten prüfen während des Klinikaufenthaltes die Medikation von Patientinnen und Patienten.
Die Studie nennt sich POLITE-RCT, die Abkürzung steht für: „Verminderung von Polypharmazie bei Patienten mit chronischen Erkrankungen“. An der Studie beteiligen sich das Dietrich Bonhoeffer Klinikum in Neubrandenburg und die Rostocker Universitätsmedizin. Am Anfang stehen intensive Gespräche zwischen den Erkrankten, die über 60 Jahre sind und mehr als fünf Medikamente pro Tag nehmen und den Pharmazeutinnen und Pharmazeuten der jeweiligen Klinik. In diesen Gesprächen erzählen die Betroffenen, welche Medikamente sie gegen welches Leiden einnehmen und wie sie mit der Einnahme zurechtkommen. Besonderes Augenmerk wird dabei auch auf die Medikamente gelegt, die im Alter problematisch sein können und deswegen möglichst nicht eingesetzt werden sollten. Die sogenannte „Priscus-Liste“ aus einem früheren Projekt, das auch vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde, zählt genau solche Wirkstoffe auf und nennt mögliche Alternativen.
„In diesem ersten Gespräch können wir teilweise schon Medikamente rausfiltern, die doppelt verschrieben wurden oder die eigentlich abgesetzt werden könnten“, erklärt Professor Attila Altiner. Er ist Direktor des Lehrstuhls für Allgemeinmedizin und koordiniert die Studie. „Sobald eine kranke Person von unterschiedlichen Ärzten oder Ärztinnen behandelt wird, besteht immer die Gefahr, dass sich Fehler im Medikationsplan einschleichen“, ergänzt er. „Deshalb ist die Rolle des Apothekers oder der Apothekerin von immenser Bedeutung.“
Enger Austausch zwischen allen Beteiligten
Ebenso wichtig ist aber auch die nachgelagerte Besprechung mit dem medizinischen Krankenhauspersonal und der Hausarztpraxis. Denn die Patienteninformationen fließen in eine persönliche Medikationsliste ein, die im Anschluss an das Gespräch von den Haus- oder Stationsärztinnen und -ärzten gesichtet wird. Sie können nun besser entscheiden, welches Medikament im Einzelfall weggelassen werden kann. „Nur gemeinsam können alle Beteiligten den jeweiligen Medikationsplan optimieren“, betont Altiner.
Ein Beispiel: Eine Pharmazeutin prüft, ob sich die verordneten Arzneimittel von Frau Müller gegenseitig beeinflussen oder ob ein Präparat vielleicht überflüssig ist. Das Ergebnis dieser Prüfung ist eine Liste von allen Wirkstoffen, die Frau Müller weglassen kann. Diese Liste wird anschließend mit der behandelnden Ärztin oder dem Arzt auf der Station besprochen und ein eventuelles „Streichergebnis“ an die Hausarztpraxis von Frau Müller weitergeleitet. „Schon jetzt, in der ersten Studienphase, lernen sowohl Stations- als auch Hausärzte einen neuen intensiven Austausch mit Patient, Pharmazeut und untereinander kennen und schätzen. Von dieser idealen Kommunikation profitieren indirekt auch alle behandelten Personen, die nicht an der Studie teilnehmen“, sagt Altiner.
Die Studie soll voraussichtlich Ende 2016 abgeschlossen sein. Das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) wird dann gesonderte Auswertungen speziell für die Studienteilnehmenden durchführen, die bei der AOK versichert sind. „Sollten wir einen positiven Effekt sehen, dann könnte unser Modell zügig in die reguläre Patientenversorgung aufgenommen werden“, erklärt der Studienleiter. „Aber schon jetzt konnten wir Patienten dabei unterstützen, überflüssige Medikamente zu vermeiden.“
Versorgungsforschung ist die Wissenschaft, die die Patientenversorgung und ihre Rahmenbedingungen beschreibt, erklärt und unter Alltagsbedingungen bewertet. Die Versorgungsforschung entwickelt neue Versorgungskonzepte und erprobt sie auch. Um die Versorgungsforschung zu stärken, hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Dezember 2014 den „Aktionsplan Versorgungsforschung – Forschung für ein patientenorientiertes Gesundheitswesen“ veröffentlicht. Teil des Aktionsplans ist der laufende Förderschwerpunkt „Studien in der Versorgungsforschung“. Mit ihm verfolgt das BMBF das Ziel, den Nutzen von Behandlungen nicht nur in klinischen Studien an ausgewählten Patientengruppen, sondern im Versorgungsalltag unter Berücksichtigung aller Bevölkerungsgruppen zu belegen. Das Projekt POLITE-RCT ist eine Studie in der Versorgungsforschung.
Ansprechpartner:
Prof. Dr. Attila Altiner
Universitätsmedizin Rostock
Institut für Allgemeinmedizin
Doberaner Straße 142
18057 Rostock
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altiner@med.uni-rostock.de