01.07.2021

„Wir müssen jetzt handeln“

Immer mehr Menschen in Deutschland erkranken an Leberkrebs. Die Professorin Ursula Klingmüller will im Forschungsnetzwerk LiSyM-Krebs eine bessere Vorsorge und Prävention vorantreiben. Dabei setzt sie auf interdisziplinäre Zusammenarbeit.

Porträt von Professorin Dr. Ursula Klingmüller in der Reihe „Gesichter der Gesundheitsforschung“

Die Krebsforscherin Ursula Klingmüller treibt in verschiedenen interdisziplinären Netzwerken die Leberforschung voran, so auch im neuen BMBF-geförderten Netzwerk „LiSyM-Krebs“ zur Prävention und Früherkennung von Leberkrebs.

DKFZ

Wenn Ursula Klingmüller als Kind mit einer Frage aus der Schule nach Hause kam, hat ihr Vater ihr keine schnelle Antwort präsentiert. Stattdessen ist er mit ihr zur großen Lexikonreihe im Bücherregal gegangen, um der Sache gemeinsam auf den Grund zu gehen. Mittlerweile sind ihre Fragen deutlich komplexer geworden, aber die Leidenschaft, mit der die Forscherin nach Antworten sucht, ist geblieben. „Mein Vater war auch Wissenschaftler und hat mir früh gezeigt, wie wichtig es ist, alles in Frage zu stellen und Antworten zu suchen, auch wenn sie komplexer ausfallen“, erinnert sich die Molekularbiologin. Am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg beschäftigt sich die Forscherin mit der Entstehung von Leberkrebs. Die Häufigkeit dieser Krebsart hat sich in den letzten 40 Jahren mehr als verdoppelt. „Es gibt einen enormen Zuwachs von Leberkrebs in der Bevölkerung durch Fettleibigkeit – wir müssen jetzt handeln“, sagt die Krebsforscherin mit Nachdruck.

Leberkrebs kann zwar operativ behandelt werden, aber nur in einem frühen Stadium. Eine flächendeckende Vorsorge gibt es bislang nicht, so dass er häufig erst spät oder zu spät entdeckt wird. „Mein Traum ist es, Betroffenen zu helfen – noch bevor sie schwer erkranken“, erklärt Klingmüller. Dafür schaut sie sich mit ihrem Team an, wie aus gesunden Leberzellen Krebszellen entstehen und wie sich dabei die Kommunikation zwischen den Zellen verändert. Die Forschenden wollen mit Hilfe dieser Informationen vorhersagen, wann die Veränderungen kritisch werden und Krebs entsteht. Zellexperimente alleine reichen dafür allerdings nicht aus. Erst die Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen aus den Disziplinen Mathematik und Physik hat zu entscheidenden Erkenntnisfortschritten geführt. „Während meiner Postdoc-Zeit in den USA habe ich gelernt, wie wichtig Forschung über Disziplinen hinweg ist. Komplexe Fragen lassen sich häufig nicht alleine beantworten“, betont die Wissenschaftlerin. „Eine neue Zusammenarbeit birgt natürlich auch immer ein Risiko, aber vor allem ist es eine Chance.“

Individuelle Krebsvorsorge möglich machen

Klingmüllers Wunsch, Menschen und vor allem Forschende zusammenzubringen, prägt ihr Forscherinnenleben deshalb entscheidend. So hat die Wissenschaftlerin seit über zehn Jahren verschiedene vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte interdisziplinäre Netzwerke zur Erforschung der Leber vorangetrieben. „Die BMBF-Förderung war unschätzbar wichtig. Ohne sie wäre diese Form der Zusammenarbeit nicht möglich gewesen und wir wären längst nicht so weit, wie wir es heute sind“, erklärt die Wissenschaftlerin. Über die Jahre hat sie insbesondere auch Freude an der Arbeit mit klinischen Partnern gefunden. So startet sie auch mit Zuversicht und viel Neugierde in das neue Netzwerk „LiSyM Krebs - Systemmedizinisches Forschungsnetz zur Früherkennung und Prävention von Leberkrebs“, das am 1. Juli 2021 seine Arbeit aufnimmt und vor allem auf die Zusammenarbeit mit klinischen Partnern ausgelegt ist. Der frühzeitige Austausch hilft den Grundlagenforschenden im Netzwerk zu verstehen, was die Ärztinnen und Ärzte in der Klinik benötigen.

Um die Forschungsergebnisse in der Klinik zur Anwendung bringen zu können, sind andere Faktoren als im Labor entscheidend. Eine Blutprobe abzugeben ist etwa deutlich einfacher und ist im Gegensatz zu einer Biopsie, bei der Zellen gewonnen werden, auch nicht mit Risiken behaftet. „Bei allem Enthusiasmus für die Forschung, darf die Sicht der Patientinnen und Patienten nicht verloren gehen“, unterstreicht die Systembiologin. „Die von uns entwickelten Methoden sollen zukünftig eine individuelle Krebsvorsorge im Rahmen eines normalen Arztbesuchs möglich machen, die für jeden zugänglich ist.“ Betroffene, die ein höheres Risiko zeigen, könnten dann etwa in kürzeren Abständen zur Vorsorge kommen. Ziel des neuen Netzwerks ist unter anderem, eine Prävention zu ermöglichen, indem entstehender Krebs bei Patienten und Patientinnen so früh erkannt wird, dass er operiert werden kann. Um das umzusetzen, sollen Vorhersagen der im Netzwerk LiSyM-Krebs entwickelten Modelle, optimiert und validiert werden.

Patient im Labor zur Blutuntersuchung

Eine individuelle Leberkrebsvorsorge soll zukünftig per Blutuntersuchung möglich sein.

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„Es ist wichtig, an sich selbst zu glauben“

Die Sicht der Patientinnen und Patienten und die Auswirkung von Forschung auf die Praxis beschäftigt die engagierte Professorin seit 2016 in einem größeren Umfang. Damals erfolgte die Berufung in den Deutschen Ethikrat. „Mir ist es wichtig, einen Beitrag zum Dialog gesellschaftlich relevanter Themen zu leisten“, sagt Klingmüller nachdrücklich. „Als Naturwissenschaftlerin kann ich so wichtige Fakten beitragen.“ Gesellschaftliche Herausforderungen beschäftigen sie mit gleicher Dringlichkeit wie Forschungsfragen. Insbesondere eine Frage lässt sie seit ihrer Promotion nicht los: Warum haben es Frauen in der Wissenschaft häufig schwerer - gerade wenn sie auch eine Familie haben möchten? „Damals, während meiner Zeit in Boston in den 1990er Jahren habe ich das erste Mal gesehen, dass man auch Familie und Wissenschaft auf einem ganz hohen Niveau vereinbaren kann. In Deutschland hätte ich mich wahrscheinlich nicht getraut, eine Familie zu gründen“, erklärt die Systembiologin beherzt. In Deutschland sei immer noch einiges zu tun, um die Bedingungen für wissenschaftliche Karrieren von Frauen zu verbessern. Sie unterstützt junge Forscherinnen und ermutigt sie, eine Karriere in der Wissenschaft einzuschlagen. „Es ist wichtig an, sich selbst zu glauben. Eine Lösung lässt sich finden, allerdings muss man diese selbst suchen“, ist Klingmüller überzeugt.

LiSyM-Krebs: systemmedizinisches Forschungsnetz zur Früherkennung und Prävention von Leberkrebs

Die Maßnahme LiSyM-Krebs setzt die erfolgreichen Forschungsaktivitäten der BMBF-Vorgängerprogramme HepatoSys / HepatoSys II, Die Virtuelle Leber und vor allem LiSyM fort. Die dort gewonnenen Erkenntnisse fließen nun in die Umsetzung der Ziele des Forschungsnetzes LiSyM-Krebs ein, das am 1. Juli 2021 seine Arbeit aufnimmt. Es besteht aus interdisziplinären Kooperationen der Disziplinen Medizin, Informatik, mathematischer Modellierung und Molekularbiologie, die in drei Verbundvorhaben organisiert sind. Die Forschungsgruppen untersuchen klinisch-relevante Fragestellungen und Ziele. Zum einen versuchen sie mit Hilfe sogenannter Multiskalen-Ansätze, den kritischen „Kipp-Punkt“ am Übergang von einer Fettlebererkrankung zum Lebertumor zu identifizieren. Zum anderen wollen sie die Diagnosemöglichkeiten früher Leberkrebsstadien verbessern. Darüber hinaus haben sie sich das Ziel gesetzt, verlässliche, nicht-invasive Verfahren zur Diagnose sowie individualisierte Therapiemöglichkeiten zu entwickeln. Neben den Forschungsverbünden fördert das BMBF ein eigenes Programm-Management zur Steuerung des Netzwerks sowie ein zentrales Daten-Management.

Mehr erfahren: https://www.dekade-gegen-krebs.de/