Dank neuer bildgebender Verfahren können Schlaganfall-Patienten jetzt auch noch sechs Stunden nach Beschwerdebeginn mit einer Lyse-Therapie behandelt werden. Dadurch verlängert sich die Zeitspanne um drei Stunden, was viele Betroffene vor schweren Behinderungen bewahrt.
Auch heute noch ist ein Schlaganfall ein schwerer Schicksalsschlag. Manche Patienten erholen sich ein Leben lang nicht mehr richtig davon - sie leiden unter schweren Behinderungen, können zum Beispiel nicht mehr laufen oder sprechen. "In den letzten Jahren gab es große Fortschritte im wissenschaftlichen Verständnis darüber, was sich bei einem Schlaganfall im Gehirn abspielt. Ein großer Durchbruch in der Therapie ist bisher aber leider noch nicht gelungen",sagt Professor Arno Villringer, leitender Oberarzt der Neurologischen Klinik an der Charité in Berlin und Koordinator des Kompetenznetzes Schlaganfall. Meistens entsteht ein Schlaganfall dadurch, dass eine Schlagader, die das Gehirn mit Blut versorgt, verengt ist oder durch einen Blutpfropf Thrombus)verschlossen wird. Ein wichtiger medikamentöser Behandlungsansatz ist die Thrombolyse, auch Lyse-Therapie genannt. Sie soll den Blutpfropf auflösen und das verschlossene Blutgefäß möglichst rasch wieder öffnen. "Seit einigen Jahren wissen wir, dass die Thrombolyse Patienten mit akutem Schlaganfall prinzipiell helfen kann. Eine wesentliche Einschränkung liegt derzeit jedoch darin, dass die Behandlung nur innerhalb von drei Stunden nach Beginn der Beschwerden durchgeführt werden darf", so Villringer. Der Grund dafür ist, dass die Ärzte zu Beginn der Behandlung nicht wissen können, wie viel Gehirngewebe durch den Schlaganfall schon zugrunde gegangen ist. Wird eine Thrombolyse durchgeführt, wenn bereits viele Gehirnzellen abgestorben sind, führt sie oft zu einer Blutung im Gehirn. Sie richtet dann mehr Schaden an als sie nützt.
Ausmaß eines Schlaganfalls besser beurteilen
Würden wir bei jedem Patienten vor der Behandlung wissen, wie viel Gehirngewebe durch den Schlaganfall zerstört wurde, könnten wir eine Thrombolyse viel gezielter steuern und sie auch noch zu einem späteren Zeitpunkt einsetzen, zum Beispiel fünf oder sechs Stunden nach Beschwerdebeginn", erklärt Villringer. Hier setzt eine klinische Studie an, die im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Kompetenznetzes Schlaganfall durchgeführt wurde. Mittels neuer kernspintomographischer Methoden, der so genannten Diffusions-gewichteten und Perfusions-gewichteten Bildgebung (DWI: diffusion weighted imaging, PWI: perfusion weighted imaging), ist es möglich, sofort nach einem Schlaganfall festzustellen, ob und wie viel Gehirngewebe eines Patienten bereits abgestorben ist. Außerdem können die Ärzte mit dieser Methode erkennen, welche Gebiete im Gehirn zwar eine Durchblutungsstörung erlitten haben, prinzipiell aber noch gerettet werden können. Dieses Gewebe nennen die Wissenschaftler "Penumbra" (griech.: Halbschatten).
Bessere Information - mehr Zeit für die Therapie
Die Studie des Kompetenznetzes Schlaganfall hat nun gezeigt, dass diese Mehrinformation der Kernspintomographie wichtig für die ärztliche Entscheidung zur Lyse-Therapie ist. 139 Patienten an fünf Kliniken (Hamburg, Heidelberg, Berlin, Düsseldorf, Mannheim) wurden im Rahmen der Studie untersucht. Da die Kernspintomographie die Veränderungen des Hirngewebes nach einem Schlaganfall wesentlich besser darstellen kann als die bisher angewendete Computertomographie, konnten die Mediziner den Zustand des betroffenen Gewebes besser beurteilen. Dies ermöglichte ihnen, das Zeitfenster für eine Behandlung mit der Lyse-Therapie von drei auf sechs Stunden nach Beschwerdebeginn zu erweitern. Es zeigte sich auch, dass durch die Thrombolyse deutlich mehr Gewebe in der Penumbra gerettet werden konnte und dass sich dadurch das neurologische Beschwerdebild der Patienten wesentlich besserte.
An den Rollstuhl gefesselt oder gut zu Fuß
In der Praxis hat die Ausweitung des Behandlungszeitraums von drei Stunden auf sechs Stunden sehr große Bedeutung. Für viele Patienten bedeutet dies bessere Chancen für die Wiedererlangung ihrer Körperfunktionen beziehungsweise kognitiven Fähigkeiten. Eine Lyse-Therapie kann darüber entscheiden, ob ein Patient auf den Rollstuhl angewiesen ist oder gehen kann, ob er unter einer schweren Sprachverständnisstörung leidet oder sich normal unterhalten kann. Wissenschaftler des Kompetenznetzes konnten zeigen, dass sich durch die Verlängerung des Zeitfensters die Zahl der behandelten Patienten von derzeit etwa vier bis acht Prozent auf etwa 20 bis 25 Prozent steigern lässt. Da der Schlaganfall heute in den Industrieländern der wichtigste Grund für eine dauerhafte Behinderung ist, haben diese Zahlen auch eine enorme volkswirtschaftliche Bedeutung: Eine größere Zahl von Patienten könnte vor schweren Behinderungen bewahrt und dadurch insgesamt erhebliche Behandlungskosten gespart werden - zum Beispiel bei der Rehabilitation, auch wenn die Kernspin-Diagnostik höhere Kosten verursacht als die bisher übliche Computertomographie. Derzeit überprüfen die Wissenschaftler, wie sich die verbesserte Akutdiagnostik mit der Kernspintomographie flächendeckend umsetzen lässt beziehungsweise ob eine neue computertomographische Technik vergleichbare Informationen liefern kann.
Aus körpereigenen Schutzmechanismen lernen
Die Studie hat noch ein weiteres interessantes Ergebnis erbracht: Bei Patienten, die vor ihrem Schlaganfall einen "kleinen Schlaganfall",eine so genannte TIA (Transitorisch ischämische Attacke) erlitten hatten, richtete der nachfolgende Schlaganfall weniger Schaden an als bei Betroffenen ohne vorausgegangene TIA. Und das, obwohl bei beiden Patientengruppen das Ausmaß der Durchblutungsstörung gleich groß war. Der Körper scheint also über Schutzmechanismen zu verfügen, die durch einen "Warnschuss", die TIA, aktiviert werden. Dieser Schutzmechanismus ist aber nur über eine bestimmte Zeit wirksam, möglicherweise bis zu drei Monate. Trotzdem ist der Befund sehr wichtig. Denn die Forscher hoffen, zukünftig den Schutzmechanismus nutzen zu können, um Patienten vor weiteren Schlaganfällen zu bewahren beziehungsweise zumindest das Ausmaß des Schlaganfalls zu verkleinern. Aus Tierexperimenten ist ein entsprechender Schutzmechanismus, das so genannte "ischemic preconditioning", gut bekannt. Der Nachweis beim Menschen steht noch aus. Daran werden die Wissenschaftler in Zukunft arbeiten.
Ansprechpartner:
Prof. Dr. med. Arno Villringer
Neurologische Klinik, Charité
Humboldt-Universität zu Berlin
Schumannstraße 20/21
10117 Berlin
Tel.: 030/45 05 60-1 01 (Standort Virchow), 030/45 05 60-0 89 (Standort Mitte)
Fax: 030/45 05 60-9 52
E-Mail: arno.villringer@charite.de
Internet: http://www.kompetenznetz-schlaganfall.de/
BMBF-Förderung
Kompetenznetz Schlaganfall
Laufzeit: 1999 – 2004
Fördersumme: 12,8 Mio. Euro
Im Kompetenznetz Schlaganfall arbeiten Grundlagenforscher, klinische Wissenschaftler, Kliniker und praktische Ärzte zusammen. Allgemeinarztpraxen als Hauptträger der Primärprävention, Akutkliniken als Hauptakteure der Schlaganfallbehandlung sowie Rehabilitationskliniken und niedergelassene Fachärzte für die Rehabilitation und Sekundärprophylaxe sind in das Netz integriert. Die Arbeiten des Kompetenznetzes Schlaganfall konzentrieren sich auf die Projektgruppen: Genetik, Pathophysiologie und Akuttherapie, Funktionelle Diagnostik zur Verbesserung der Aktuttherapie, Plastizität und Rehabilitation. Die Projektgruppe „Zentrale Projekte“ entwickelt Modelle für eine verbesserte Infrastruktur der Behandlung.