Kinder mit der Sehschwäche Amblyopie werden bislang vor allem mit einer Abdeckung des gesunden Auges behandelt. Digitale Verfahren, die beide Augen trainieren, lassen auf bessere Ergebnisse hoffen – dazu könnte eine präzisere 3-D-Diagnostik beitragen.
Zur Therapie der angeborenen Sehschwäche Amblyopie gehört üblicherweise das Augenpflaster. Für die betroffenen Kinder, aber auch ihre Eltern ist das häufig mit großem Stress verbunden. Das sehstärkere Auge soll über Monate hinweg täglich mehrere Stunden lang abgedeckt werden, damit die Verarbeitung von visuellen Reizen durch das sehschwache Auge gefördert wird. Die Pflastertherapie kann bei guter Therapietreue sehr wirksam sein. Sie stößt aber vor allem bei älteren Kindern auf Irritation und Unwillen und wird deswegen häufig nicht konsequent umgesetzt. Der Erfolg der Behandlung wird so unter Umständen geschmälert.
Neue Verfahren in der Diagnostik könnten zur besseren Einschätzung neuer Therapien beitragen. „Unsere Arbeitsgruppe widmet sich der Erprobung verschiedener Verfahren“, so Professorin Dr. Maria Fronius. „Die Ergebnisse sind vielversprechend, aber noch ist eine bessere Wirksamkeit im Vergleich zur Standardtherapie nicht wissenschaftlich erwiesen.“ Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) förderte das von ihr geleitete Teilprojekt im Forschungsverbund Neuro-DREAM mit rund 270.000 Euro.
Amblyopie nennt man die eingeschränkte Sehfunktion meist nur eines Auges, die im Kindesalter entsteht. Zu den häufigen Auslösern gehören Schielen und ungleiche Fehlsichtigkeit (hauptsächlich Weitsichtigkeit) der beiden Augen. Amblyopie äußert sich vor allem durch unscharfes Sehen, reduzierte Wahrnehmung von Kontrasten und Einschränkungen beim räumlichen Sehen. Die Amblyopie ist eine Entwicklungsstörung des Sehsystems im Gehirn (visueller Cortex), deren Ursachen nur teilweise bekannt sind. Sie tritt bei rund fünf Prozent aller Kinder auf und ist in dieser Altersgruppe die häufigste Augenerkrankung. Wird die Amblyopie nicht rechtzeitig erkannt und behandelt, können die Sehstörungen bis ins Erwachsenenalter anhalten und bei Verlust des gesunden Auges schwere Sehbehinderungen auslösen. Eine frühzeitige Behandlung ist auch deswegen wichtig, weil das Sehsystem im Gehirn schon in jungen Jahren ausreift und deshalb mit zunehmendem Alter immer weniger therapeutisch beeinflusst werden kann.
These des Neuro-DREAM-Forschungsverbundes: Amblyopie betrifft beide Augen
Das Team des Neuro-DREAM-Verbundes geht von der These aus, dass bei der Amblyopie nicht nur ein Auge betroffen ist, sondern beim Sehen das Gleichgewicht zwischen beiden Augen gestört ist. Anders als die derzeitigen Standardverfahren, die sich auf das sehschwache Auge konzentrieren, setzen neuere Therapien deswegen auf visuelle Reize für beide Augen. Das Prinzip der Behandlungsverfahren: beiden Augen Bilder zeigen, dabei aber das gesunde Auge „benachteiligen“, beispielsweise durch dunklere oder unschärfere Darstellung. Danach folgt eine allmähliche Angleichung der Darstellung, was einen Lernprozess im Gehirn auslösen soll, sodass am Ende beide Augen in etwa gleich gut sehen und erfolgreich zusammenarbeiten. „Gerade bezüglich der Besserung der beidäugigen Zusammenarbeit sind die Ergebnisse bisheriger Studien zu binokularen Amblyopietherapien widersprüchlich oder nicht besonders aussagekräftig“, beschreibt Fronius die aktuelle Situation. Die meist verwendeten klinischen 3-D-Tests sind zwar zur raschen Erkennung von Defiziten geeignet, nicht jedoch zur genauen und zuverlässigen Quantifizierung des 3-D-Sehens.
Für das Frankfurter Forschungsteam bestand eine besondere Herausforderung darin, eine möglichst große Genauigkeit bei der Messung der Sehschwäche und der Reaktion auf die visuellen Reize zu erreichen und zugleich die Tests kindgerecht zu gestalten. Dazu haben sie moderne Display-Technologien für den spielerischen Einsatz bei jüngeren Kindern getestet und weiterentwickelt.
Kindgerechte Methode: Die Suche nach dem fehlenden Pizzastück
Untersucht wird an 3-D-Monitoren mit sogenannten Shutter-Brillen. Dafür wählten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler z. B. das „Pizza-Suchspiel“. Die „Pizza“ ist ein kreisförmiges 3-D-Testobjekt, dem an einer Stelle – oben, unten, links oder rechts – ein Stück fehlt. An den vier Seiten des Testmonitors werden vier bei Kindern beliebte Figuren wie ein Äffchen, ein Bär oder ein Roboter angebracht, und die Kinder müssen feststellen, welche der Figuren das fehlende Stück „gegessen“ hat. Dieser Test, entwickelt von Projektpartnern an der McGill University Montreal, wurde in Frankfurt an Normalsichtigen und Amblyopen im Kindes- und Erwachsenenalter geprüft und aufgrund der Erfahrungen verfeinert.
NEURON-Verbund Neuro-DREAM
Neuro-DREAM ist einer von zehn Forschungsverbünden der Fördermaßnahme ERA-NET NEURON zur Erforschung von Entwicklungsstörungen im zentralen Nervensystem. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) förderte diese Maßnahme in den Jahren 2016 bis 2021 mit insgesamt 2,9 Millionen Euro. Koordiniert wurde Neuro-DREAM von Professor Dr. Jochen Triesch vom Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS), der sich in Computermodellen der Entstehung verschiedener Arten von Amblyopien sowie der Entwicklung neuer Behandlungsmethoden widmete.
Mehr Informationen zur Fördermaßnahme
ERA-NET NEURON 2016 - 2019: Förderung von europäischen Forschungsprojekten zu Entwicklungsstörungen im Nervensystem
Digitale 3-D-Diagnostik erfolgreicher als die Standardverfahren
Mit dem digitalen 3-D-Test konnte das Forschungsteam bereits bei Kleinkindern ab vier Jahren exakte Werte zur räumlichen Sehfähigkeit in den unterschiedlichen Entwicklungsphasen messen – und war damit erfolgreicher als die Standardmessverfahren. Zudem konnte mit dem neuen digitalen Testverfahren bei einer Reihe von Amblyopen die genaue Stereosehschärfe ermittelt werden, bei denen das mit den üblichen klinischen 3-D-Tests nur qualitativ oder gar nicht möglich war. „Eine weitere sorgfältige Prüfung vorausgesetzt, eröffnen unsere Ergebnisse die Chance, exaktere diagnostische und weitere wirksame therapeutische Methoden in Klinik und Praxis einzuführen und so den betroffenen Kindern eine bessere Perspektive zu geben“, so Fronius.
Originalpublikation:
Tittes, J., Baldwin, A. S., Hess, R. F., Fronius, M., et al. (2019). Assessment of stereovision with digital testing in adults and children with normal and impaired binocularity. Vision Research. 164 (Nov 2019): 69–82, DOI: 10.1016/j.visres.2019.07.006
Ansprechpartnerin:
Prof. Dr. Maria Fronius
Klinik für Augenheilkunde – Forschungseinheit „Sehstörungen des Kindesalters“
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Theodor-Stern-Kai 7
60590 Frankfurt am Main
fronius@em.uni-frankfurt.de