Die Bioinformatikerin Olga Kalinina liebt Rätsel. Mit Hilfe Künstlicher Intelligenz taucht sie tief ein in das Innenleben einzelner Zellen oder Mikroorganismen. Dabei erforscht sie etwa, warum manche Menschen bestimmte Medikamente schlecht vertragen.
„Ich vergleiche meine Forschung oft mit Detektivarbeit“, sagt Professorin Dr. Olga Kalinina und lächelt. Dieses feine Lächeln kehrt immer wieder, während sie erzählt. Wer ihr zuhört, merkt schnell: Olga Kalinina ist vollkommen eins und glücklich mit dem, was sie tut. Sie wisse natürlich, dass die Ermittlungsarbeit in Krimis nicht unbedingt der Realität entspreche, fügt sie hinzu. „Aber meine Arbeit als Wissenschaftlerin kommt dem schon sehr nahe.“ Am Anfang steht ein Rätsel, das es zu entschlüsseln gilt. In ihrem Fall liegt die Antwort verborgen in einer riesigen Menge von Daten. Um diese Daten zu entschlüsseln und die zentralen Hinweise zu finden, entwickelt die Bioinformatikerin am Helmholtz-Zentrum für Pharmazeutische Forschung in Saarbrücken passende KI-Tools. „Ich liebe Rätsel, die uns die Natur aufgibt. Und ich tauche gerne tief in die Dinge ein“, sagt Kalinina. „Für mich ist das der beste Job der Welt.“
Ihre Spurensuche führt die Forscherin tief hinein in das Innenleben einzelner Zellen und Mikroorganismen. Im Verbundprojekt „DrugSiderAI“ beschäftigt sich Kalinina mit den Nebenwirkungen von Medikamenten. Diese entstehen, wenn der Wirkstoff nicht nur mit den eigentlichen Ziel-Proteinen in der Zelle, sondern auch mit weiteren Proteinen interagiert. Dabei können die Reaktionen der einzelnen Patientinnen und Patienten völlig unterschiedlich ausfallen. Das Forschungsteam will herausfinden, warum das so ist und wie sich das individuelle Risiko für bestimmte Nebenwirkungen mit Hilfe Künstlicher Intelligenz (KI) vorhersagen lässt. Für das Training der KI nutzt Kalininas Team Genomdaten von hunderttausenden Patientinnen und Patienten. Die entscheidende Frage ist, wie man dieses gigantische Daten-Material analysiert. „Im Englischen heißt das ‚to interrogate‘, also verhören. Wir verhören die Daten, damit sie uns die richtigen Antworten liefern, so wie Zeugen und Verdächtige im Krimi“, sagt Kalinina.
Lebensbedrohliche Komplikationen verhindern
Ziel des Projekts ist es, die entscheidenden genetischen Marker zu finden, die erklären, warum ein bestimmter Mensch ein Medikament verträgt oder nicht. Diese Erkenntnisse könnten künftig in ein Software-Tool fließen, das auf Basis der individuellen Genomdaten jedes einzelnen Patienten mögliche Medikamenten-Nebenwirkungen vorhersagen kann – und damit unter Umständen lebensbedrohliche Komplikationen verhindert. Dass sie mit ihrer Forschungsarbeit auch zu einer besseren Gesundheitsversorgung beiträgt, ist Kalinina sehr wichtig. „In der Wissenschaft wird man häufig von theoretischen Fragen getrieben“, sagt sie. „Dabei darf man den praktischen Mehrwert nicht vergessen.“
Ein weiteres Forschungsfeld von Olga Kalinina sind Bakterien. Auch hier hat ihre Arbeit durchaus Parallelen zur Welt der Krimis. Auf der einen Seite stehen die Bösen, jene gefährlichen Krankheitserreger, die Resistenzen gegen Antibiotika entwickelt haben. Hier setzen Kalinina und ihr Team KI-Methoden ein, um anhand der Genomsequenz eines Bakteriums vorhersagen zu können, gegen welche Antibiotika es resistent ist. Auf der anderen Seite stehen die Guten, das sind Bakterien, die vor allem im Erdreich leben und Stoffe absondern, mit denen man gefährliche Krankheitserreger bekämpfen könnte. „Diese Bakterien analysieren wir mit Hilfe von KI, um Kandidaten zu identifizieren, die man als Wirkstoffe einsetzen könnte“, erklärt die Bioinformatikerin. Die Infektionsforschung voranzubringen, ist Kalinina ein besonderes Anliegen. „Auch weil sie von der pharmazeutischen Industrie vernachlässigt wird“, sagt sie. „Da muss die akademische Wissenschaft einspringen, da können wir als Forschende eine große Lücke schließen.“
Dem Vorbild der Eltern gefolgt
Mit ihrem Einsatz für die Infektionsforschung tritt Kalinina in die Fußstapfen ihrer Eltern. Mutter und Vater sind beide Molekularbiologen und haben sich in ihrem Forscherleben schwerpunktmäßig der Virologie und menschlichen Genomkrankheiten gewidmet. Ihr Interesse für biologische Zusammenhänge wurde Kalinina also in die Wiege gelegt. In der Schule hat ihr das Fach jedoch keinen Spaß gemacht. „Der Unterricht war zu weit von der Wissenschaft entfernt“, sagt sie. Einzig die Genetik hat sie schon damals fasziniert. In der Schulzeit war Mathe das Lieblingsfach der gebürtigen Moskauerin. In ihrer Heimatstadt hat sie auch zunächst Mathematik studiert. Während ihrer Promotion fand Kalinina wieder den Weg zurück zur Biologie. Sie wurde auf eine Forschergruppe aufmerksam, die sich mit bioinformatischen Methoden beschäftigte. „Bioinformatik, davon hatte ich zuvor noch nichts gehört“, erinnert sich Kalinina. „Doch ich habe dort sofort meine wissenschaftliche Heimat gefunden.“
Nach der Promotion war Kalinina klar, dass sie nicht ihr gesamtes Forscherleben an einem Standort verbringen wollte. Sie suchte nach einer Postdoc-Stelle im Ausland, Deutschland war ihr Wunschziel. „Auch hier bin ich dem Vorbild meiner Eltern gefolgt“, sagt sie. „Sie haben beide eine Zeit lang in Deutschland gearbeitet, deshalb erschien mir dieser Schritt vollkommen logisch.“ Selbst die Sprache sei für sie kein Schock gewesen. Deutsch hatte sie schon als Schülerin gelernt, ganz nebenbei in ihrer Freizeit. Sie bewarb sich auf eine Postdoc-Stelle am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie in Heidelberg und wurde angenommen.
„Sehr gute Chancen für Frauen“
„Danach wollte ich mehr Verantwortung übernehmen und sehen, wie meine eigenen Ideen realisiert werden“, so Kalinina. Am Max-Planck-Institut für Informatik in Saarbrücken gründete sie 2012 als eine der ersten Frauen ihre eigene Nachwuchsgruppe. Das Forschungsthema: Resistenzmechanismen humaner Viren. Als sie 2019 am Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung und der Universität des Saarlandes eine Professur übernahm, war sie eine Vorreiterin auf dieser Karrierestufe. In Russland seien die Fächer Informatik und Mathematik nicht so männerdominiert wie in Deutschland, hat Kalinina festgestellt. Umso wichtiger findet sie es, dass Mädchen stärker ermutigt werden, MINT-Fächer zu studieren. „Dabei sind die Chancen für Frauen gerade in unserem Forschungsbereich sehr gut“, fügt sie hinzu. „Den meisten Kollegen ist es durchaus bewusst, dass Frauen gefördert werden müssen.“
Förderung innovativer Softwaretools
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt die Arbeit von Prof. Dr. Olga Kalinina und ihrem Team im Rahmen der Förderinitiative „Computational Life Sciences - CompLS“. In der Patientenversorgung und der klinischen Forschung wächst die Menge an elektronisch verfügbaren Daten rasant. Intelligente Algorithmen können in diesen riesigen Datensätzen versteckte Muster aufspüren. Sie helfen dabei, Zusammenhänge zu erkennen sowie verbesserte Ansätze für die Prävention, Diagnose und Therapie von Krankheiten zu finden. Mit der Förderinitiative „CompLS“ treibt das BMBF die Entwicklung innovativer Softwaretools für die Lebenswissenschaften voran. Einer der Schwerpunkte ist die Nutzung von Methoden der Künstlichen Intelligenz in der Biomedizin. Seit 2018 hat das BMBF bislang rund 52 Millionen Euro für mehr als 70 Forschungsprojekte bereitgestellt.
Als Chefin legt Olga Kalinina vor allem Wert darauf, dass sich alle Mitarbeitenden in ihrem zehnköpfigen Team wohlfühlen und Freude haben an dem, was sie tun. Vor Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hatte ihre Forschungsgruppe auch Kooperationsprojekte mit russischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Mittlerweile wurden diese jedoch von den europäischen Förderern gestoppt. Viele ihrer ehemaligen Kolleginnen und Kollegen haben Russland inzwischen verlassen. Die 42-Jährige Kalinina lebt gerne in ihrer nicht mehr ganz so neuen Heimat. Zusammen mit ihrem Mann wandert sie mit Begeisterung durch die weitläufige Landschaft rund um Saarbrücken. „Die Natur hier gefällt mir sehr gut. Die Wälder, die Hügel – alles total schön“, schwärmt sie und lächelt.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat sich bereits wenige Stunden nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine eindeutig positioniert und den Angriff als einen eklatanten Bruch des Völkerrechts verurteilt. Als Konsequenz wurden alle Kooperationsaktivitäten mit staatlichen Stellen in Russland und Belarus sofort eingefroren und kritisch überprüft. Der forschungspolitische Dialog bleibt ausgesetzt, konkrete Forschungskooperationen sind unter Wahrung rechtlicher Rahmenbedingungen mittlerweile abgebrochen oder werden ohne Beteiligung der russischen bzw. belarussischen Partner fortgesetzt.
Russische und belarussische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Studierende begreift das BMBF als Teil der Zivilgesellschaft. Sofern diese in Deutschland arbeiten oder studieren, dürfen sie nicht diskriminiert, stigmatisiert und isoliert werden. Freiheit von Wissenschaft, Lehre und Forschung sind unverzichtbare Bestandteile von unabhängigen Demokratien. Daher stehen wir an der Seite jener, die für den Frieden und diese Werte eintreten.