Viele Frühgeborene leiden unter einer gestörten Darmflora und haben deshalb ein höheres Risiko für langfristige Gesundheitsschäden. Im Forschungsverbund PRIMAL wird untersucht, ob Probiotika – natürlich vorkommende Mikroorganismen – davor schützen können.
Fast zehn Prozent der jedes Jahr in Deutschland geborenen Babys, also etwa 80.000 Kinder, kommen vor der Vollendung der 40. Schwangerschaftswoche auf die Welt. Besonders verletzlich sind jene „Frühchen“, die bereits vor der 32. Schwangerschaftswoche geboren werden. Neun von zehn dieser Kinder erblicken das Licht der Welt per Kaiserschnitt, drei von vier müssen Antibiotika erhalten. Insgesamt sind diese Frühgeborenen besonders anfällig für eine Störung der Darmflora (Mikrobiom).Hierdurch wird unter anderem das Wechselspiel zwischen Darmbesiedlung und der Reifung des Immunsystems beeinträchtigt. Eine solche Darm-Dysbiose kann langfristige Gesundheitsfolgen haben: Bei besonders unreifen Neugeborenen besteht ein insgesamt höheres Risiko für Infektionen und Entzündungen und die neurologische Entwicklung sowie die Lungenfunktion können beeinträchtigt sein.
Einen Weg Frühgeborene davor zu schützen sehen Forschende in der Gabe sogenannter Probiotika. Diese Mikroorganismen sind in großen Mengen in der Muttermilch zu finden, aber auch ergänzender Bestandteil industriell hergestellter Babynahrung. Ob ihre Verabreichung in den ersten 28 bis 30 Lebenstagen die Ausbildung einer gesunden Darmflora positiv begünstigen kann, untersucht der Forschungsverbund PRIMAL, der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird. Zentrales Teilprojekt des von Professor Dr. Philipp Henneke koordinierten Verbundes ist eine klinische Studie, die an 19 Zentren für Kinder- und Jugendmedizin in Deutschland durchgeführt wird und rund 650 Frühgeborene einschließt.
Die Zusammensetzung der Darmflora (Mikrobiom) hat weitreichende Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen. Bereits vor und vor allem während der Geburt wird der Darm von den für eine gesunde Darmflora benötigten Bakterien besiedelt. Vieles weist darauf hin, dass eine frühe Störung dieser Besiedlung, in der Fachsprache „Dysbiose“ genannt, langfristige Gesundheitsprobleme verursacht. Im Vergleich zu reifgeborenen Kindern sind Frühgeborene besonders anfällig für eine Dysbiose, denn oft gehen Frühgeburten mit medizinisch notwendigen Maßnahmen wie einem Kaiserschnitt oder der Verabreichung von Antibiotika einher – beide sind nachweislich schädlich für die Darmflora.
Das Zusammenspiel zwischen Darmflora und Immunsystem ergründen
„Der Darm ist eines der immunologisch wichtigsten Organe des Menschen und die Zusammensetzung der Darmflora zu Beginn des Lebens deshalb von immenser Bedeutung für die Prägung des gesamten Immunsystems“, erklärt Professor Dr. Christoph Härtel aus Würzburg, der Leiter der klinischen-Studie. „Gerade bei sehr verletzlichen Frühgeborenen ist aber noch wenig bekannt über das wichtige Zusammenspiel von Mikrobiom und Immunität.“ In Vorstudien des PRIMAL-Verbundes sei aber festgestellt worden, dass gerade sehr kleine Frühgeborene, wenn sie nicht ausschließlich mit Muttermilch ernährt werden, von Probiotika profitieren können. Sie weisen weniger Infektionen auf und gedeihen insgesamt besser. Diesen Zusammenhang wollen die Forschenden nun mit der klinischen Studie genauer untersuchen.
Die über den PRIMAL-Verbund vernetzten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler spannen einen Bogen zwischen Grundlagenforschung, präklinischer und klinischer Forschung: Gemeinsam arbeiten sie an Strategien, um individuell bei jedem Kind eine Darm-Dysbiose vorbeugen zu können. Die PRIMAL-Studie ist eine multizentrische Untersuchung und erfolgt randomisiert, doppelt verblindet und Placebo-kontrolliert, d.h. weder die beteiligten Ärzte noch die Auswerter der Studie wissen, ob ein Kind Probiotika oder einen wirkstofffreien Placebo erhält. „Parallel zu einer sehr detaillierten Metagenomanalyse von Stuhlproben untersuchen wir in unserer Studie auch die Reifung einzelner Aspekte des Immunsystems; beides durch höchstmoderne Analyseverfahren, die bei Frühgeborenen so bislang noch nicht eingesetzt wurden“, so Härtel.
PRIMAL-Konsortium: Vernetzt über Fachgrenzen hinweg
Entsprechend groß ist das Interesse in der Fachwelt und bei Elternverbänden, mit denen das PRIMAL-Netzwerk eng zusammenarbeitet. Frühgeborenen-Mediziner, Kinderärztinnen und -ärzte und Ernährungsmediziner hoffen dank der Studie mittelfristig neue Behandlungen etablieren zu können. Eine enge Kooperation pflegt der PRIMAL-Verbund auch mit dem Deutschen Frühgeborenennetzwerk (GNN) und dem Deutschen Zentrum für Infektionsforschung (DZIF), zwei ebenfalls vom BMBF geförderten Einrichtungen. In gemeinsamen Projekten mit dem DZIF will der PRIMAL-Verbund sogenannte Mikrobiomsignaturen, also die spezielle Zusammensetzung des Mikrobioms bei Frühgeborenen, ergründen, die jeweils als „schützend“ oder „risikobehaftet“ eingestuft werden können. Die Forschenden erhoffen sich hierdurch neue Behandlungsansätze. Der Verbund begleitet die Frühgeborenen zunächst bis zum Abschluss des ersten Lebensjahres, um ihre Neigung zu Infekten und Allergien zu verfolgen; langfristig ist eine Untersuchung der in die PRIMAL-Studie aufgenommenen Kinder bis ins Erwachsenenalter geplant. Die Forschenden richten ihren Blick aber auch auf andere Krankheiten. „Unsere Erkenntnisse“, ist Härtel überzeugt, „werden auch übertragbar sein für das Verständnis der Entstehung von Volkskrankheiten wie Asthma, Allergien, Übergewicht, Entzündungen und psychosomatische Störungen“.
Der PRIMAL-Verbund ist ein deutschlandweites Netzwerk aus Ärztinnen und Ärzten der Kinder- und Jugendmedizin sowie Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftlern an sieben Standorten – Lübeck/Würzburg, Hannover, Mainz, Homburg, Heidelberg, Tübingen und Freiburg. Das Konsortium wird durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) bis 2021 mit knapp 3,4 Millionen Euro gefördert. Das Ministerium stellt diese Mittel im Rahmen der Förderinitiative „Gesund – ein Leben lang“ bereit. Koordinator des Verbundes ist Professor Dr. Philipp Henneke aus Freiburg, Leiter der klinischen Studie ist Professor Dr. Christoph Härtel. Sein Team koordiniert die Studie und wird dabei durch das Zentrum für Klinische Studien (ZKS) sowie das Institut für Medizinische Biometrie und Statistik (IMBS) der Universität zu Lübeck unterstützt.