In der Intensivmedizin angewandte Therapien helfen nicht immer – das zeigen Studien aus dem Jenaer CSCC. Warum das für Patientinnen und Patienten und das Gesundheitssystem dennoch eine gute Nachricht ist, erklären die CSCC-Sprecher im Interview.
Die Ergebnisse von drei wissenschaftlichen Studien, die kürzlich in hochrangigen Fachzeitschriften erschienen, kommen auf einen bemerkenswerten gemeinsamen Nenner: Alle drei zeigen, dass bestimmte Therapieverfahren in der Intensivmedizin, teilweise sind es sogar Leitlinienempfehlungen, nicht die gewünschte Wirkung haben. Die Studien entstanden im Zentrum für Sepsis und Infektionsforschung (CSCC) am Universitätsklinikum Jena, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) von 2015-2021 mit rund 20 Millionen Euro gefördert wurde. Die beiden Sprecher des CSCC, Professor Michael Bauer und Professor André Scherag, erklären, warum Patientinnen und Patienten dennoch von den Ergebnissen der drei Studien profitieren, welche Art von Forschung erforderlich ist, um zu solchen Ergebnissen zu kommen, und warum sich der beträchtliche Zeit- und Kostenaufwand am Ende rechnet.
Inwieweit profitieren Patientinnen und Patienten von Ihren Ergebnissen?
Bauer: Natürlich wollen wir Krankheiten heilen, aber eine zentrale Aufgabe für unser ärztliches Handeln ist auch, Patientinnen und Patienten nicht zu schaden. Nehmen wir das Beispiel der Studie REMOVE. Sie hat gezeigt, dass die übliche Eliminierung von angeblich schädlichen Botenstoffen von Immunzellen tatsächlich gar keinen positiven Effekt auf das Organversagen bei einer lebensbedrohlichen Endokarditis hat. Im Gegenteil: Durch das Verfahren selbst können sogar Schäden an den Blutzellen entstehen. Das heißt: Nur weil eine Therapie plausibel erscheint, hat sie nicht zwingend einen Effekt, der für Patientinnen und Patienten relevant ist. Vielmehr brauchen wir Behandlungsverfahren, die in guten Studien mit hochwertigen Daten geprüft werden. Und wenn solche klinischen Studien zu dem Ergebnis kommen, auf ein bestimmtes Verfahren besser zu verzichten, dann helfen wir damit den Patientinnen und Patienten und entlasten darüber hinaus die Krankenkassen und die Sozialsysteme ganz erheblich. Die scheinbar negativen Ergebnisse sind also sehr positiv, und wir brauchen gerade in der Intensivmedizin noch viele weitere solcher Studien.
Was ist das Besondere an Ihren Studien?
Scherag: Die Studienideen wurden von klinischen Kolleginnen und Kollegen aus ihrem ärztlichen Alltag heraus entwickelt. Anschließend haben wir uns als Methodiker im Bereich klinischer Epidemiologie und Biostatistiker in die Studienplanung eingebracht. Wir erarbeiteten dann gemeinsam eine Fragestellung, die unabhängig vom Ausgang der Studie zu einem Ergebnis führt, das für die medizinische Versorgung von Patientinnen und Patienten relevant ist. Konkret bedeutet das zum Beispiel, dass man klinische und patientenrelevante Ergebnisse vorab in einem Studienprotokoll, das registriert und veröffentlich wird, festlegt. Zusätzlich setzt eine solche Planung auch eine systematische Suche nach ähnlichen Studien voraus und die Ermittlung der Fallzahl, die wiederum auf den Vorerfahrungen der anderen Studien aufsetzt und diese begründet. Als letzte Komponente werden solche Studien üblicherweise an mehreren Standorten durchgeführt. Der Grund liegt nicht nur an der erforderlichen Fallzahl – meist mehrere hunderte oder tausende Patientinnen und Patienten – die von einem Standort in akzeptabler Zeit nicht erreichbar ist. Die Durchführung an mehreren Standorten hat auch den Vorteil, dass ein Effekt nachweisbar sein muss, obwohl es teilweise große Unterschiede zwischen den Institutionen gibt, beispielsweise bei der Ausstattung oder den IT-Systemen. Wir nennen das dann ein robustes Ergebnis. Schließlich brauchen solche Studien auch Infrastrukturen wie Zentren für Klinische Studien mit entsprechender Expertise, und diese Infrastruktur muss nachhaltig finanziert werden. Durch die BMBF-Förderung des Zentrums für Sepsis und Infektionsforschung in Jena wurde uns dieser Einstieg ermöglicht.
REMOVE: Bei Herzklappenentzündungen müssen in 50 Prozent der Fälle betroffene Gewebeareale entfernt werden, weil sie nachhaltig geschädigt sind. Ursache für ein Organversagen anderer Organe als des Herzens sind häufig körpereigene Botenstoffe der Immunabwehr, die übermäßig produziert werden und dabei Organe und Gewebe schädigen. Die bislang übliche Hämadsorption ist eine Art Blutwäsche, um diese Botenstoffe herauszufiltern.
Ergebnis der Studie: Die Hämadsorption reduziert zwar die Botenstoffe, aber es gibt keinen positiven Effekt auf die Organfunktion und die Gesundheit der Betroffenen insgesamt.
CandiSep: Intensivpatientinnen und -patienten haben häufig eine reduzierte Immunabwehr und erkranken daher eher an Pilzinfektionen als gesunde Menschen. Die Diagnostik einer Pilzinfektion ist schwierig; eine Therapie mit Antimykotika erfolgt oft ungezielt. In der Studie wurden Patienteninnen und Patienten auf eine womöglich beginnende Pilz-Infektion hin getestet und abhängig vom Testergebnis gezielt behandelt.
Ergebnis der Studie: Die frühe beziehungsweise häufigere Behandlung auf Basis des Pilz-Infektionstests bringt keine Vorteile für die Betroffenen.
Target: Bei einer Sepsis, landläufig auch Blutvergiftung genannt, entsteht eine lebensbedrohliche Situation durch die ungehinderte Verbreitung von Infektionserregern. Zur Behandlung werden Antibiotika gegeben und dabei ihre Dosierung anhand der Messung der Wirkkonzentration im Blutplasma gesteuert.
Ergebnis der Studie: Es konnte nicht nachgewiesen werden, dass sich die Organfunktion, Sterblichkeit und Heilungsrate der Betroffenen durch die Steuerung der Behandlung anhand der Messung der Wirkkonzentrationen der Antibiotika verbessert.
Wieso spricht man von klinischer Epidemiologie?
Scherag: Klinische Epidemiologie ist ein Teilgebiet der Epidemiologie. Die klinische Epidemiologie befasst sich mit Präventions-, Screening- und Diagnoseverfahren, sowie mit Therapien für Krankheiten und ihrer Prognose. Dabei kommen verschiedene Methoden der Epidemiologie und Biostatistik, wie randomisierte kontrollierte Studien, Beobachtungsstudien, systematische Reviews und Metaanalysen zum Einsatz, um wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen und durch diese die Qualität der Entscheidungen am Krankenbett zu verbessern. In der Regel arbeiten wir in Teams mit Kolleginnen und Kollegen aus der Klinik, Spezialisten im Bereich des Datenmanagements, mit Projektmanagern sowie vielen weiteren Personen, die dazu beitragen, dass valide Daten zur Beantwortung der Forschungsfragen entstehen. Aus diesen können wir gemeinsam belastbare Empfehlungen ableiten – in den Beispielen für die intensivmedizinische Versorgung. Übrigens binden wir auch die Patientinnen und Patienten selbst in die Studienplanung ein, denn ihre Perspektive auf das Krankheitsgeschehen liefert wertvolle Hinweise für Lücken in der Krankenversorgung und für neue Therapieansätze.
Das ist ein großer Aufwand. Rechnet der sich?
Bauer: Auf jeden Fall. Wir sind dem BMBF sehr dankbar, dass wir die Mittel für unsere Arbeiten erhalten haben. Für die Industrie kommen solche Studien oft nicht infrage, weil nicht unbedingt ein neues Produkt entsteht, sondern im Gegenteil womöglich auf den Einsatz eines Medikaments verzichtet wird. Für die einzelnen Patientinnen und Patienten und das Gesundheitssystem insgesamt aber sind die Studien ganz wichtig, denn es wird nicht nur Schaden verhindert, sondern es können teilweise hohe Kosten für unwirksame Behandlungen eingespart werden. Beispiel CandiSep: Jede vorbeugende und, wie sich in der Studie herausstellte, leider unwirksame Behandlung mit Antimykotika kostet rund 2.000 Euro und wird oft über viele Tage angewendet. Und es gibt viele weitere Beispiele, wo zurzeit in gutem Glauben oder bei den Antimykotika sogar aufgrund einer Leitlinienempfehlung, aber eben nicht auf der Basis von wissenschaftlichem Nachweis unwirksame oder sogar schädliche Therapien eingesetzt werden. Und auch den zeitlichen Aufwand für den häufig mühsamen Aufbau einer langfristig arbeitenden Forschungsplattform können Unternehmen nicht übernehmen. Die Ergebnisse der drei großen klinischen Studien zeigen, dass wir mit dem CSCC eine sehr erfolgreiche Forschungsplattform für Sepsis- und Infektionsforschung geschaffen haben. Damit befinden wir uns auf Augenhöhe mit den auf diesem Feld international renommierten Zentren in den USA (Pittsburgh) oder Australien (Sydney).
Wie kommen die Studienergebnisse in die ärztliche Praxis?
Bauer: Dank der sehr klaren Datenlage und Veröffentlichung in international renommierten Fachzeitschriften werden unsere Studienergebnisse mit Sicherheit in Leitlinien übergehen. Zurzeit wird die S3-Leitlinie Sepsis aktualisiert, bei der ein Fokus auf dem wissenschaftlichen Nachweis durch klinische Studien liegt. Mitglieder unseres Zentrums sind aufgrund der sehr anerkannten Arbeit am CSCC in diesen Prozess eingebunden. Leitlinien sind Handlungsempfehlungen und keine bindende Vorschrift, denn die vor Ort behandelnden Ärztinnen und Ärzte dürfen und müssen über den jeweils individuellen Fall entscheiden. Die Leitlinien werden aber sehr ernst genommen, denn sie entstehen entlang eines differenzierten festgelegten Verfahrens der medizinischen Fachgesellschaften. Manchmal kann dies etwas dauern, wir sind aber zuversichtlich, dass die Ergebnisse rasch in der intensivmedizinischen Versorgung ankommen. Ohne Forschung kann man die Versorgung nicht verbessern.
Das Center for Sepsis Control and Care (CSCC), widmet sich der Erforschung von Sepsis und deren Folgeerkrankungen. Das CSCC ist am Universitätsklinikum Jena angesiedelt, zahlreiche Forschende aus den unterschiedlichsten Fachgebieten und Einrichtungen tragen ihre Expertise bei. Ein Fokus der gemeinsamen Forschungsprojekte liegt auf der intensivmedizinischen Versorgung. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) förderte den Auf- und Ausbau des CSCC zu einem nationalen Kompetenzzentrum von 2015-2021 mit insgesamt über 20 Millionen Euro. Es ist eines von acht integrierten Forschungs- und Behandlungszentren (IFB), die das BMBF bundesweit seit 2010 mit insgesamt knapp 380 Millionen Euro förderte. Ziel ist dabei, zu besonders relevanten Krankheitsbildern nachhaltige Strukturen zu schaffen, in denen Forschung und Patientenversorgung eng miteinander verknüpft sind.