Für Menschen, die von einer seltenen Form der Epilepsie betroffen sind, besteht Hoffnung auf eine rasch verfügbare Therapie: Forschende setzten mit Erfolg ein Medikament gegen die Krankheit ein, das bereits gegen Multiple Sklerose zugelassen war.
Die Anfälle beginnen bereits in den ersten Wochen oder Monaten nach der Geburt – betroffene Babys zeigen Versteifungen und Zuckungen, die mit einer Veränderung der Atmung oder der Herzfrequenz einhergehen. Die Anfälle können mehrmals täglich auftreten und sind schwer zu behandeln. Viele der betroffenen Kinder erleiden zudem motorische, sprachliche und geistige Entwicklungsstörungen. Eine Ursache für diese frühkindliche Epilepsie und Enzephalopathie können seltene Veränderungen im KCNA2-Gen sein, das die genetische Bauanleitung für einen sogenannten Ionenkanal im Gehirn darstellt.
Ionenkanäle – der Schlüssel zur Aktivität von Nervenzellen
Ionenkanäle sind Poren in der Zellmembran, die geladene Atome (Ionen) wie beispielsweise Kalium in die Zellen hinein und aus ihnen herausfließen lassen können. Dieser Austausch von Ionen ist essenziell für die Fähigkeit von Zellen, elektrische Signale zu erzeugen und weiterzuleiten. Kaliumkanäle kommen in allen Nervenzellen des Gehirns vor. Ist das KCNA2-Gen verändert, kann dies zu einer gesteigerten oder zu einer eingeschränkten Aktivität der Kaliumkanäle führen, die neuronale Netzwerke unterschiedlich beeinflussen kann. Es handelt sich hierbei um eine sehr seltene Erkrankung: Weltweit sind zurzeit nur etwa 60 Fälle von KCNA2-Mutationen bekannt. In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung dann als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen von ihr betroffen sind.
Bei Betroffenen mit einer gesteigerten Aktivität des Kanals setzten Forschende des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Verbundes Treat-ION erstmals erfolgreich den Kanalblocker 4-Aminopyridin ein. „Dieser Wirkstoff ist bereits zur Behandlung von Multipler Sklerose zugelassen und hemmt spezifisch die Überaktivität der Kaliumkanäle“, sagt Prof. Dr. Holger Lerche, Verbundkoordinator und Ärztlicher Direktor der Abteilung Neurologie mit Schwerpunkt Epileptologie am Universitätsklinikum Tübingen. In Kooperation mit acht weiteren neurologischen Zentren weltweit konnten die Forschenden in neun von elf behandelten Patienten im Alter von wenigen Monaten bis 37 Jahren Verbesserungen erzielen. „Insbesondere bei den Kindern zeigten sich deutliche Verbesserungen, während bereits erwachsene Betroffene weniger stark von dem Medikament profitieren konnten“, so Lerche. „Insgesamt reduzierte sich die Anzahl der epileptischen Anfälle und die Patientinnen und Patienten waren im Alltag allgemein deutlich wacher und geistig fitter. Auch ihre Sprache verbesserte sich nach Beginn der Medikamentenbehandlung“, so Lerche. „Ein Absetzen des Medikamentes führte hingegen wieder zu einer deutlichen Verschlechterung der Symptome.“ Die Behandlung war im Rahmen eines sogenannten individuellen Heilversuches möglich, der es Ärztinnen und Ärzten erlaubt, auf Basis wissenschaftlicher Studien ein Arzneimittel außerhalb des durch die Arzneimittelbehörden erlaubten Gebrauchs einzusetzen.
Treat-ION – ein Verbund zur Erforschung von Therapien gegen neurologische Ionenkanal- und Transporterstörungen
Seltene neurologische Ionenkanal- und Transportererkrankungen, kurz NICATD, umfassen eine Vielzahl von neuropsychiatrischen Erkrankungen. Betroffene leiden unter einer hohen Krankheitslast und die Erkrankungen werden häufig falsch oder zu spät diagnostiziert. Therapien für die unterschiedlichen Krankheitssymptome sind entweder nicht vorhanden oder unzureichend. In sieben Teilprojekten suchen Forschende deshalb nach neuartigen und personalisierten Therapien für NICATD. Hauptaugenmerk liegt darauf, die Wirksamkeit von bereits zugelassenen Arzneimitteln zu überprüfen, weil diese bei erfolgreichen Tests schnell eingesetzt werden können. Der Verbund wird im Rahmen der Fördermaßnahme „Seltene Erkrankungen“ mit rund zwei Mio. Euro vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Für insgesamt elf Verbünde zur Erforschung verschiedener Seltener Erkrankungen stellt das BMBF im Rahmen einer vierten Förderphase von 2019 – 2022 insgesamt 34 Mio. Euro zur Verfügung.
Überblick über alle Forschungsverbünde
Wann hilft der Wirkstoff und wann nicht? Eine Datenbank unterstützt bei Therapie-Entscheidung
Der Wirkstoff hilft bei verschiedenen Mutationen im KCNA2-Gen, und er könnte auch bei Mutationen in anderen KCNA-Genen mit Überfunktion helfen. Er wirkt jedoch nicht bei allen Unterformen der Erkrankung, denn bei manchen führt die Genmutation nicht zu einer gesteigerten, sondern zu einer eingeschränkten Aktivität der Kaliumkanäle. Um behandelnden Ärztinnen und Ärzten eine schnelle Entscheidung zu ermöglichen, haben die Forschenden eine Datenbank erstellt, in der bereits bekannte Mutationen aus der KCNA-Genfamilie sowie die damit verbundenen Auswirkungen auf den Kaliumkanal aufgelistet sind. So kann die Therapie der Betroffenen schnell begonnen und der Krankheitsverlauf gelindert werden.
Für das Projekt, dessen Ergebnisse im September 2021 in der Fachzeitschrift Science Translational Medicine veröffentlicht wurden, wurde das Forschungsteam mit dem Eva Luise Köhler Forschungspreis für Seltene Erkrankungen 2018 ausgezeichnet. Aus Sicht der Forschenden ist nun eine klinische Studie notwendig, um die Wirksamkeit der neuen Therapie auch zu beweisen. „Wir freuen uns, dass wir mit dem Projekt erstmals zu einer Behandlung einer für Kinder und ihre Eltern sehr belastenden Erkrankung beitragen konnten“, fasst Lerche zusammen. „Doch es gibt weiteren Forschungsbedarf: Im nächsten Schritt möchten wir im Rahmen einer klinischen Studie die Wirksamkeit durch eindeutig definierte Kriterien beweisen, nach denen unabhängige ärztliche Gutachter anhand von Filmsequenzen eine Verbesserung bei den Betroffenen nach Einnahme des Wirkstoffes prüfen können. Wir sind zudem dabei, weitere Therapien mit 4-Aminopyridin und anderen Wirkstoffen bei Varianten in anderen Kaliumkanalgenen sowohl im Labor als auch bei Patienten zu prüfen.“
Tag der Seltenen Erkrankungen
Der internationale Tag der Seltenen Erkrankungen wird am 29. Februar begangen – bewusst wurde mit dem Schalttag der seltenste Tag im Jahr ausgewählt. Entfällt der 29. Februar, findet der Aktionstag am 28. Februar statt. Initiator ist EURORDIS, eine nicht-staatliche Allianz von Patientenorganisationen. Der Tag der Seltenen Erkrankungen 2022 steht unter dem Motto „Share your colours“ und wirft ein Licht auf die globale Gemeinschaft von über 300 Millionen Menschen, die mit einer seltenen Krankheit leben, und ihrem Wunsch nach Teilhabe und Therapie.
Weitere Infos: https://www.rarediseaseday.org/
In Deutschland werden die Aktionen von der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE e. V.) koordiniert, dem Dachverband für rund 130 Patientenorganisationen von Menschen mit Seltenen Erkrankungen.
Mehr unter: https://www.achse-online.de/de/