April 2022

| Newsletter 106

Experten-Analyse: So wird mehr gesunde Ernährung für alle möglich

Wie ist es um die Ernährung in Deutschland bestellt? Erstmals untersuchten Forschende systematisch die politischen Rahmenbedingungen hierzu und gaben Empfehlungen ab, wie künftig besseres Essen auf den Tellern der Bundesrepublik landen könnte.

Fröhliche Kinder am Frühstückstisch mit Melone

Insbesondere Kinder und Jugendliche sind darauf angewiesen, Zugang zu gesunden und dennoch erschwinglichen Mahlzeiten zu bekommen.

Robert Kneschke/Adobe Stock

Eine gesunde Ernährung hängt nicht nur von persönlichen Vorlieben und finanziellen Möglichkeiten ab. Auch politische Rahmenbedingungen prägen, wie Menschen sich ernähren. Forschende der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU München) und des Leibniz-Instituts für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS) in Bremen haben mit Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die Ausgangslage in Deutschland untersucht. Zusammen mit 55 Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft wurde diese mit internationalen Best Practices verglichen und auf dieser Grundlage wurden Reformempfehlungen für Deutschland entwickelt. Grundlage für diese Empfehlungen war der sogenannte Food Environment Policy Index (Food-EPI), ein international anerkanntes, einheitliches Bewertungssystem für verschiedene Kriterien wie beispielsweise die Lebensmittelpreisgestaltung und offizielle Ernährungsempfehlungen.

Bei der Untersuchung wurden insgesamt 28 Verbesserungsmöglichkeiten anhand von wissenschaftlichen Studien und Empfehlungen von Fachorganisationen identifiziert und in Bezug auf die Situation in Deutschland von den Fachleuten bewertet. Als Ergebnis des mehrstufigen Prozesses formulierten sie fünf konkrete Maßnahmen, die dauerhaft dazu beitragen könnten, dass für alle und möglichst überall mehr Gesundes auf den Teller kommt. „Uns war wichtig, dass die Maßnahmen in die Breite wirksam sowie praktisch umsetzbar sind und auch soziale Ungleichheit im Ernährungsstatus ausgleichen können“, sagt Dr. Peter von Philipsborn, Leiter des Forschungsprojektes und Wissenschaftler am Lehrstuhl für Public Health und Versorgungsforschung der LMU.

Ernährungspolitik im Fokus der Forschung

Der hier vorgestellte Ergebnisbericht des Food Environment Policy Index (Food-EPI) wurde von einem Team aus Forschenden an der LMU München und dem Leibniz-Institut für Präventionsforschung Epidemiologie (BIPS) Bremen erstellt. Die Untersuchung zum Food-EPI ist ein Teilprojekt der transnationalen Fördermaßnahme „Förderung eines europäischen Netzwerks zur Effektivität politischer Maßnahmen zur Lebensstilintervention“, kurz PEN („Policy Evaluation Network“). Die Fördermaßnahme wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) von 2019 bis 2022 mit rund 1,5 Millionen Euro gefördert und ist eingebettet in die gemeinsame europäische Programminitiative „Eine gesunde Ernährung für ein gesundes Leben“ (JPI HDHL).

Ein Fokus der Empfehlungen liegt dabei auf den Lebensumständen und Gewohnheiten von Kindern und Jugendlichen. „Ernährungsvorlieben werden in der Kindheit geprägt“, sagt Professorin Dr. Eva Rehfuess, Co-Projektleiterin und Leiterin des Lehrstuhls für Public Health und Versorgungsforschung an der LMU. „Daher empfehlen die Expertinnen und Experten eine flächendeckende und qualitativ hochwertige, gebührenfreie Schul- und Kitaverpflegung.“

In Bezug auf die bei jungen Menschen besonders beliebten Softdrinks raten die Forschenden zu einer nach dem Zuckergehalt gestaffelten Herstellerabgabe, die beispielsweise in Großbritannien schon mit großem Erfolg eingeführt wurde. Diese Maßnahme könnte sogar zwei positive Effekte mit sich bringen: Die Erfahrungen aus dem Ausland zeigen, dass dadurch sowohl der Zuckergehalt in den Softdrinks als auch der Konsum der Softdrinks zurückgeht. Die erzielten Einnahmen könnten – so die Empfehlung der Expertenrunde – für die Verbesserung der Kita- und Schulverpflegung eingesetzt werden.

Ein weiterer Ansatzpunkt ist die Regulierung von Werbung, mit der insbesondere Kinder und Jugendliche angesprochen und zum Kauf von ungesunden Nahrungsmitteln angeregt werden sollen. „Untersuchungen zeigen, dass Kinder in Deutschland im Schnitt pro Tag 15 Werbespots und -anzeigen für ungesunde Lebensmittel sehen“, so Philipsborn. „Über Comicfiguren, Online-Gewinnspiele oder beigelegte Spielzeuge werden Nahrungsmittel für Kinder attraktiv gemacht, die häufig zu viel Zucker, Salz oder Fett enthalten – dies erschwert die Bemühungen von Eltern und Lehrkräften, Heranwachsende gesund zu ernähren.“

Bessere Ernährung schützt Gesundheit, Umwelt und Klima 

Die Notwendigkeit einer Kurskorrektur zeigen Forschungsergebnisse internationaler Studien, die den Einfluss der Ernährung auf die Gesundheit untersuchen. So sind laut einer im Jahr 2019 in der Fachzeitschrift „The Lancet“ erschienenen Studie rund elf Prozent der Krankheitslast und 15 Prozent aller Todesfälle in Deutschland auf ernährungsbezogene Risikofaktoren zurückzuführen. Zu den typischen Folgekrankheiten, die auch mit hohen Kosten für das Gesundheitssystem verbunden sind, zählen im Lebensverlauf unter anderem Typ-2-Diabetes, Gelenkprobleme, Bluthochdruck und Herzerkrankungen. Auch Klima und Umwelt profitieren von einer ausgewogenen Ernährung – so wird das Ernährungssystem weltweit für ein Viertel bis ein Drittel aller Treibhausgasemissionen verantwortlich gemacht, wie unter anderem eine in der Zeitschrift „Nature Food“ im Jahr 2021 erschienene Studie zeigte.

Gesunde Lebensmittel sind aktuell oft teurer als weniger gesunde

Die Empfehlungen der Expertinnen und Experten beziehen sich nicht nur auf die Lebensumstände von Kindern und Jugendlichen. Für alle Einrichtungen, die Kantinen oder eine andere Form der Gemeinschaftsverpflegung anbieten – wie beispielsweise Seniorenheime und Kliniken –, sollten die von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) definierten Qualitätsstandards verpflichtend gelten. Und schließlich könnte auch eine Mehrwertsteuerreform nach Ansicht des Expertengremiums zur Gesundheitsförderung beitragen. „Gesunde Lebensmittel sind aktuell oft teurer als weniger gesunde, weshalb wir eine Senkung des Mehrwertsteuersatzes beispielsweise auf Obst und Gemüse empfehlen“, so Rehfuess. „Gesunde Ernährung darf nicht vom Geldbeutel abhängen.“

„Die Ergebnisse unserer Bestandsaufnahme machen deutlich, dass Deutschland aktuell hinter seinem Potenzial zurückbleibt“, so Philipsborn. „Bei der Analyse der Ausgangslage wurden 47 Indikatoren in 13 Bereichen wie beispielsweise das Lebensmittelangebot in öffentlichen Einrichtungen oder die Lebensmittelpreisgestaltung untersucht. In einigen Bereichen – so zum Beispiel bei der Entwicklung von Ernährungsempfehlungen sowie bei der Datensammlung und -auswertung – steht Deutschland im internationalen Vergleich gut da. In anderen Bereichen besteht Nachholbedarf, und genau an diesen Schwachstellen setzen unsere fünf konkreten Handlungsempfehlungen an.“

Fünf Handlungsempfehlungen für eine bessere Ernährung in Deutschland

1. Qualitativ hochwertige, gebührenfreie Schul- und Kitaverpflegung
2. Senkung des Mehrwertsteuersatzes auf gesunde Lebensmittel
3. Herstellerabgabe auf Softdrinks
4. Regulierung von Kinder-Lebensmittelmarketing
5. Gesundes Essen in öffentlichen Einrichtungen

Originalpublikationen:
Der Food-EPI Ergebnisbericht ist online verfügbar unter www.jpi-pen.eu/images/reports/Food-EPI_Ergebnisbericht_V11.pdf

Philipsborn, P. von, Geffert, K., Klinger, C., Hebestreit, A., Stratil, J., Rehfuess E. A. Nutrition policies in Germany: a systematic assessment with the Food Environment Policy Index. Public Health Nutrition. 2021 Dec 9, DOI: 10.1017/S1368980021004742

Ansprechpartner:
Dr. med. Peter von Philipsborn
Lehrstuhl für Public Health und Versorgungsforschung
Institut für medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie (IBE)
Pettenkofer School of Public Health
Ludwig-Maximilians-Universität München
Elisabeth-Winterhalter-Weg 6
81377 München
089 2315-3861
pphilipsborn@ibe.med.uni-muenchen.de