Für manche Jugendliche ist es ein einmaliges Ereignis, andere verletzen sich selbst immer wieder mit Rasierklingen oder fügen sich bewusst Verbrennungen zu. Das im Forschungsverbund STAR entwickelte Online-Programm bietet ihnen schnelle und flexible Hilfe.
Etwa jeder dritte Jugendliche in Deutschland hat sich in seinem Leben schon einmal absichtlich Verletzungen zugefügt. Die Gründe sind vielfältig – neben Erkrankungen wie zum Beispiel Depressionen, Ess- oder Angststörungen können auch mangelndes Selbstwertgefühl, die Unfähigkeit, Gefühle auszudrücken, und schwach ausgeprägte Selbstregulierungskräfte zu den Ursachen zählen. Meist geschehen solche Selbstverletzungen nicht in suizidaler Absicht; vielmehr geht es darum, seelischen Schmerz zu mindern und inneren Druck abzubauen.
Ritzen, schneiden, schlagen: Jeder dritte Jugendliche kennt das
Jugendliche und junge Erwachsene mit psychischen Störungen oder Problemen haben ein besonders hohes Risiko, selbstverletzendes Verhalten zu entwickeln. Ihnen soll ein im Forschungsverbund STAR entwickeltes kostenloses Online-Programm Unterstützung bieten – frühzeitig, flexibel und individuell ausgerichtet. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert den Verbund mit rund 3,6 Millionen Euro. „Wir haben mit STAR die Chance, selbstverletzendes Verhalten aus verschiedenen Blickwinkeln besser verstehen zu können. Von der neurobiologischen und psychologischen Grundlagenforschung bis hin zu innovativen Therapieformen und der Dissemination evidenzbasierten Wissens“, so beschreibt Professor Dr. Paul Plener, der den Verbund koordiniert, das laufende Projekt.
Nicht suizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV)
Unter NSSV versteht man selbstverletzendes Verhalten in nicht suizidaler Absicht, d. h. die freiwillige, direkte Zerstörung oder Veränderung des eigenen Körpergewebes. Zu den häufigsten Formen einer solchen Selbstverletzung zählen Schneiden, Ritzen, Kratzen, Schlagen/Anschlagen, Kneifen, Beißen oder Verbrennen (zum Beispiel mit Zigaretten oder Deospray) der Haut an Armen, Handgelenken und Oberschenkeln. Seltener werden Bauch, Brust, Gesicht oder Genitalbereich verletzt. Etwa 25 bis 35 Prozent aller Jugendlichen in Deutschland haben sich aktuellen Untersuchungen zufolge schon mindestens einmal selbst verletzt. Die meisten Selbstverletzungen sind bei Jugendlichen im Alter von 15 bis 17 Jahren zu beobachten, weibliche Jugendliche verletzen sich etwas häufiger als männliche Jugendliche.
„Bisher fehlt es an evidenzbasierten, zeit- und kosteneffektiven Behandlungsansätzen“, erläutert Professor Dr. Michael Kaess vom Zentrum für Psychosoziale Medizin, Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Heidelberg. „Erschwerend kommt hinzu, dass viele junge Menschen keine professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, oder – wenn sie sich entschlossen haben, Hilfe zu suchen – keinen Zugang zu spezialisierten therapeutischen Angeboten haben. Zusätzlich ergeben sich zum Teil lange Wartezeiten auf Behandlungsplätze, was durch die COVID-19-Pandemie weiter verschärft wird.“
Online-Tool bietet individuelle Hilfe ohne lange Wartezeiten
Über die Online-Plattform des STAR-Verbundes können sich Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 15 bis 21 Jahren anonym für das Programm anmelden und über vier Monate auf dessen Inhalte zugreifen. Unterschiedliche Module bieten Informationen, Videos und Übungen, aber auch die Möglichkeit, Chats oder Telefonate mit geschulten Therapeutinnen und Therapeuten zu buchen und sich in moderierten Gruppenchats mit anderen Betroffenen auszutauschen. Der Vorteil dieses niederschwelligen Angebots: Es ermöglicht schnelle, diskrete Unterstützung, ist jederzeit und überall nutzbar, und die teilnehmenden Jugendlichen können das Programm angepasst an die eigenen Bedürfnisse und im eigenen Tempo bearbeiten.
Verbundvorhaben STAR
Das Verbundvorhaben STAR erforscht Ursachen und Mechanismen selbstverletzenden Verhaltens und will dessen Behandlung verbessern. Das Vorhaben ist einer von elf Forschungsverbünden zur Kinder- und Jugendgesundheit, die das BMBF im Rahmen der Initiative „Gesund – ein Leben lang“ fördert. Für STAR stellt das Ministerium von 2017 bis 2022 rund 3,6 Millionen Euro bereit. Die Federführung der Online-Intervention liegt bei Professor Dr. med. Michael Kaess vom Zentrum für Psychosoziale Medizin, Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Heidelberg. Koordiniert wird der Verbund von Professor Dr. med. Paul Plener am Universitätsklinikum Ulm (Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie). Weitere Teilprojekte von STAR werden am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, am Karlsruher Institut für Technologie (Lehrstuhl für Angewandte Psychologie) sowie an der Universität Koblenz-Landau (Fachbereich Psychologie) betreut.
Weitere Infos sowie die Möglichkeit zur Teilnahme an der Studie finden sich unter www.star-projekt.de
Klinische Studie überprüft Wirksamkeit der Intervention
Ob und wie das Online-Programm helfen kann, die Behandlung von selbstverletzendem Verhalten zu verbessern, wird in einer klinischen Studie überprüft. Hierzu hat das von Kaess geleitete Forschungsteam bislang rund 400 Jugendliche rekrutiert, doch werden noch weitere Teilnehmende in die Studie aufgenommen. „Wer sich entschlossen hat, an dem Programm teilzunehmen, wird nach dem Zufallsprinzip einer Kontroll- oder Interventionsgruppe zugeteilt“, so Kaess. Eine Gruppe erhält Zugriff auf seriöse und umfassende Informationen zu selbstverletzendem Verhalten, die andere Gruppe nimmt zusätzlich an einem Online-Programm teil. „Zu Beginn dieses Programms sowie vier, zwölf und 18 Monate nach ihrer Teilnahme füllen die Jugendlichen diagnostische Fragebögen aus, um die Wirksamkeit der Intervention zu prüfen.“ Noch ist die Studie nicht abgeschlossen, ein erstes Zwischenergebnis liegt aber schon vor: Die Online-Intervention werde sehr gut angenommen; das Risiko der Teilnehmenden für weitere Selbstverletzungen oder gar einen Suizidversuch habe sich nicht erhöht, so Kaess.
„Die teilnehmenden Jugendlichen können bewerten, wie gut einzelne Interventionen und Übungen verstanden werden und wie sie deren Wirksamkeit einschätzen“, sagt der Heidelberger Wissenschaftler. „Uns liefert das wichtige Erkenntnisse, ob einzelne Interventionen oder Übungen künftig ausgetauscht oder angepasst werden sollten; die Wirksamkeit der webbasierten Behandlung können wir so weiter steigern.“
Verbund bündelt deutschlandweit Expertise
Die Arbeiten im STAR-Verbund haben auch unmittelbare Auswirkungen auf die therapeutische Praxis: Durch die Kooperation entsteht eine deutschlandweite Vernetzung verschiedener Forschungsgruppen mit unterschiedlicher Expertise und interdisziplinären Ansätzen zum Thema selbstverletzendes Verhalten. Dabei gewonnene Erkenntnisse haben die Forschenden in einer Broschüre zusammengefasst – einem Leitfaden für Fachkräfte in der medizinischen und klinischen Versorgung, der von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm herausgegeben wird, die ein Teilprojekt des STAR-Verbundes betreut.
Ansprechpartner:
Prof. Dr. med. Michael Kaess
Zentrum für Psychosoziale Medizin, Kinderund Jugendpsychiatrie
Universitätsklinikum Heidelberg
Blumenstraße 8
69115 Heidelberg
06221 56-8245
michael.kaess@med.uni-heidelberg.de
Prof. Dr. med. Paul Plener
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie
Universitätsklinikum Ulm
Steinhövelstraße 5
89075 Ulm
0731 500-61765
paul.plener@meduniwien.ac.at