August 2021

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Psychotherapie: Per Video in der vertrauten Hausarztpraxis

Menschen mit Depressionen oder Ängsten berichten oft nur dem vertrauten Hausarzt von ihrem Leiden. Die Barrieren für eine Psychotherapie sind oft sehr hoch. Psychotherapeutische Videosprechstunden in der Hausarztpraxis könnten die Lösung sein.

Das Bild zeigt ein Mobiltelefon, das auf einer Tischhalterung steckt. Auf dem Bildschirm des Telefons läuft eine Videokonferenz.

Psychotherapie per Video: Eine Patientin spricht in der Hausarztpraxis mit einer Psychotherapeutin.

Dr. Markus Haun

Epidemiologischen Studien zufolge sind fast 28 Prozent der erwachsenen Bevölkerung – fast 18 Millionen Menschen – in Deutschland jedes Jahr von einer psychischen Erkrankung betroffen, unter anderem von Depressionen und Angstzuständen. Die erste Ansprechperson für Betroffene ist oft die Hausärztin oder der Hausarzt des Vertrauens. Folglich sind es häufig auch die Hausärztinnen und -ärzte, die die Erstdiagnose einer psychischen Erkrankung stellen und weitere Behandlungsschritte empfehlen, zum Beispiel eine psychotherapeutische Unterstützung. Die Vermittlung in passende Behandlungen funktioniert indes oft nicht gut. In der Folge leiden etwa zwei von zehn Patientinnen und Patienten in Hausarztpraxen unter langanhaltenden psychischen Belastungen. Die Gründe, die Betroffene von einer psychotherapeutischen Behandlung abhalten, sind vielfältig: Scham und die Angst vor Stigmatisierung, lange Wartezeiten bis zum Therapiebeginn oder Fahrtwege zur Psychotherapiepraxis sind mögliche Barrieren. So passiert oft jahrelang nichts – und die Belastungen werden chronisch.

Die vertraute Hausarztpraxis: Geschützter Raum für die Weiterbehandlung

Diesen Umstand möchte der Mediziner und Psychologe Dr. Markus Haun ändern: „Wir müssen die Menschen dort abholen, wo sie sich auskennen, wo sie sich sicher und geschützt fühlen. Dies ist in der Hausarztpraxis der Fall. Die Menschen sollen nicht allein zur Psychotherapie finden müssen, sondern wir bringen ein Psychotherapie-Angebot niederschwellig zu ihnen“, sagt der Oberarzt an der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.

Haun und sein Team führen dazu das Forschungsprojekt PROVIDE durch, das seit 2016 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit rund 1,3 Millionen Euro gefördert wird. Der Grundgedanke von PROVIDE ist bekannt als Integrated Mental Healthcare (integrierte Patientenversorgung) und wird beispielsweise in den USA bereits umgesetzt: Psychotherapeutinnen und -therapeuten arbeiten mit den Patientinnen und Patienten direkt in der vertrauten Hausarztpraxis und führen dort sowohl Diagnostik als auch Therapie durch.

Forschungsprojekt PROVIDE: Einbezug von Psychotherapeuten per Video

„Wir haben nun jedoch in Deutschland die Situation, dass insbesondere in ländlichen Regionen oft zu wenige Psychotherapeutinnen und -therapeuten vor Ort sind, um ein solches integriertes Angebot realisieren zu können“, erläutert Haun. „Auch kleine Praxen haben hier ein Ressourcen-Problem, sie können sich nicht ohne weiteres mit Psychotherapeutinnen und -therapeuten zusammentun. Daher haben wir untersucht, ob auch Videosprechstunden angenommen werden – diese sind ortsunabhängig und eine Praxis benötigt nur einen verhältnismäßig kleinen Zusatzraum mit Videoarbeitsplatz.“ Erkennt die Hausärztin oder der Hausarzt also einen Bedarf an psychotherapeutischer Unterstützung, kann die Patientin bzw. der Patient in der Praxis vor Ort per Videosprechstunde mit einer Therapeutin bzw. einem Therapeuten in Kontakt treten.

Depressionen und Ängste

Seelische Belastungen sind weit verbreitet und können die Lebensqualität der Betroffenen stark beeinträchtigen. So ist etwa jeder vierte Mensch in Deutschland statistisch betrachtet im Zeitraum eines Jahres von einer Depression bzw. einer Angsterkrankung betroffen.

Lesen Sie mehr in unserem Dossier „Erkrankungen des Gehirns“:

Depression: Schatten auf der Seele 

Angst, Zwang und Schizophrenie 

Von den Wünschen der Beteiligten bis zur erfolgreichen Umsetzung

Haun und sein Team gingen bei PROVIDE in drei Schritten vor: Zunächst erfassten sie die Bedarfe, Sorgen und Hoffnungen der beteiligten Akteure und erfragten, was Hausärztinnen und Hausärzte, Patientinnen und Patienten sowie Psychotherapeutinnen und -therapeuten mit Blick auf die geplanten Videokonsultationen bewegt. Im zweiten Schritt wurden die Videokonsultationen mit diesem Wissen gestaltet und in einigen Testpraxen angewendet und anschließend ausgewertet.

Es zeigte sich in dieser Machbarkeitsstudie, dass die Videoangebote von allen Seiten gut angenommen wurden. So schätzen die Patientinnen und Patienten beispielsweise das gewisse Maß an Anonymität und die meist kurzen Wege zur Praxis, während die Beziehung zur Therapeutin bzw. zum Therapeuten als gut empfunden wurde. Besonders interessant: Auch ältere Menschen, Menschen aus bildungsfernen Schichten und Betroffene mit schwereren Störungsbildern nahmen gern an den Konsultationen teil – genau die Patientengruppen, die gewöhnlich seltener eine psychotherapeutische Behandlung erfahren bzw. deren Behandlung besonders dringlich ist.

Nun wird das neue Versorgungsangebot in größerem Stil in mehr als 20 Hausarztpraxen überregional näher untersucht und mit der regulären Versorgung verglichen. Mehr als 300 Patientinnen und Patienten sollen hierzu an der Studie teilnehmen.

Die Videokonsultationen beinhalten vor allem Diagnostik, Behandlungsplanung, Krisenintervention und Kurzzeitpsychotherapie.

Aktionsplan Versorgungsforschung – Forschung für ein patientenorientiertes Gesundheitswesen

Ziel des Aktionsplans Versorgungsforschung ist es, den medizinischen Alltag zu untersuchen und die wirksamsten medizinischen, pflegerischen oder rehabilitativen Leistungen zu identifizieren. Ein Baustein des Aktionsplans Versorgungsforschung ist der Aufbau von strukturfördernden Maßnahmen in der Versorgungsforschung: Hierzu zählt der Aufbau regionaler Kooperationsnetze zur gemeinsamen Forschung sowie die Etablierung von Forschungs-Nachwuchsgruppen.

Das Forschungsprojekt PROVIDE und die hieran beteiligte Forschungs-Nachwuchsgruppe um Dr. Markus Haun wird durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Zuge des „Aktionsplans Versorgungsforschung – Forschung für ein patientenorientiertes Gesundheitswesen“ gefördert.

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Originalpublikationen:
Haun MW, Hoffmann M, Tönnies J, et al. Videokonsultationen durch Psychotherapeuten in Zeiten der COVID-19-Pandemie: Wirksamkeit, Gestaltung des Settings und erste Erfahrungen aus einer Machbarkeitsstudie sowie mit dem Routineangebot im Krankenhaus. Psychotherapeut 2020, 65(4), 291–296. doi: 10.1007/s00278-020-00438-6

Haun MW, Tönnies J, Krisam R, et al. Mental health specialist video consultations versus treatment as usual in patients with depression or anxiety disorders in primary care: Study protocol for an individually randomised superiority trial (The PROVIDE-C Trial). Trials 2021, 22(1), 327. doi: 10.1186/s13063-021-05289-3

Ansprechpartner:
Dr. Markus Haun, M.Sc. Psych.
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Medizinische Fakultät und Universitätsklinikum
Heidelberg
Klinik für Allgemeine Innere Medizin
und Psychosomatik
Im Neuenheimer Feld 410
69120 Heidelberg
06221 56-8774
markus.haun@med.uni-heidelberg.de