November 2021

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Wenn ein Blick in die Tiefe Alarm in Kopf und Beinen auslöst

Viele erwischt es nicht erst in den Alpen: Visuelle Höhenintoleranz kann auch den Alltag massiv beeinträchtigen. Forschende am Deutschen Schwindel- und Gleichgewichtszentrum haben untersucht, was geschieht, wenn den Augen optische Fixpunkte fehlen.

Fast jeder Dritte leidet unter Höhenschwindel – das kann nicht nur in den Bergen zu einem Problem werden.

Fast jeder Dritte leidet unter Höhenschwindel – das kann nicht nur in den Bergen zu einem Problem werden.

ShannonK/Adobe Stock

Eine leichte Unsicherheit beim Blick in die Tiefe und ein flaues Gefühl in der Magengegend, das sie den nächsten Schritt mit zittrigen Knien gehen lässt − dagegen sind selbst geübte Bergsteiger nicht gefeit. Mit „echter“ Höhenangst hat das jedoch nur bedingt zu tun; die Symptome beschreiben das Phänomen des Höhenschwindels, den viele Menschen empfinden, wenn es in ihrer Nähe nur wenig Objekte gibt, die sich gut mit den Augen fixieren lassen.

Eine Forschungsgruppe am Deutschen Schwindel- und Gleichgewichtszentrum (DSGZ) in München ist dem Phänomen – in der Fachsprache auch visuelle Höhenintoleranz genannt – in umfangreichen Untersuchungen nachgegangen. „Ausgehend von Beispielen aus der Antike ging es uns zunächst darum, herauszufinden, wie oft und wie stark ausgeprägt eine solche Intoleranz auch heute bei Erwachsenen und Kindern vorkommt, welche Lebensumstände und Faktoren die Symptomatik beeinflussen“, beschreibt Professorin Dr. Doreen Huppert. „Basierend auf neurophysiologischen Untersuchungen von Betroffenen und gesunden Kontrollpersonen unter realen Bedingungen auf einem Fluchtbalkon in 20 Meter Höhe, aber auch mithilfe von virtuellen Höhensimulationen wollen wir Empfehlungen zur Vorbeugung von Höhenschwindel entwickeln.“

Demokles und Goethe: Fallbeispiele aus der Geschichte

Aus der Geschichte sind eine Reihe von Fallbeschreibungen von Höhenschwindel überliefert – so etwa die des im 5. Jahrhundert vor Christus lebenden Griechen Demokles, dessen Blick sich verschleierte und dessen Muskeln schwach wurden, wenn er über eine Brücke ging, oder die Erfahrungen von Johann Wolfgang von Goethe, der seine Höhenintoleranz mit der wiederholten Ersteigung des Straßburger Münsters in den Griff bekommen wollte. Erkenntnissen des DSGZ-Forschungsteams zufolge gehen etwa drei Prozent der Mitglieder des Deutschen Alpenvereins ganz ähnlich vor: Auch sie bekämpfen das Phänomen im Sinne einer Eigentherapie.

Höhenschwindel

Weiche Knie und ein flaues Gefühl in der Magengegend, Unsicherheit beim Gehen und Stehen, mitunter Herzrasen, Schweißausbrüche und verkrampfte Muskulatur: All das zählt zu den typischen Symptomen des Höhenschwindels, unter dem fast 30 Prozent aller Deutschen leiden. Je nach Häufigkeit und Schwere der Symptome kann dies für die Betroffenen erhebliche Auswirkungen auf den Lebensalltag haben. Am häufigsten wird der Höhenschwindel beim Besteigen eines Turms, beim Wandern und Bergsteigen ausgelöst; er kann aber auch schon beim Stehen auf einer Leiter oder beim Gang über eine Brücke „getriggert“ werden. Im schlimmsten Fall kann sich die in der Fachsprache als „visuelle Höhenintoleranz“ bezeichnete Symptomatik zu einer Höhenangst (Akrophobie) steigern, einer therapiebedürftigen Angststörung.

Fehlende optische „Haltegriffe“ verursachen Unsicherheit

Der Schwindel setzt meist dann ein, wenn das Auge zu wenig Fixpunkte findet, an denen es sich orientieren kann – fehlen diese optischen „Haltegriffe“ etwa auf einem schmalen Grat oder an einem Steilhang, löst dies Unsicherheit aus, können Kopf- und Körperschwankungen nicht mehr durch das Auge korrigiert werden. Bislang seien jedoch weder die Häufigkeit des Syndroms noch weitere Charakteristika bekannt gewesen, so Huppert.

Erste bundesweit repräsentative Studien

Professorin Dr. med. Doreen Huppert

Professorin Dr. med. Doreen Huppert

LMU München

Deshalb startete ihr Team zwei repräsentative deutschlandweite Studien mit 3.517 bzw. 2.012 Teilnehmenden. „Bei Erwachsenen fanden wir eine Lebenszeitprävalenz von 28 Prozent“, fasst Huppert die Studienergebnisse zusammen, „und bei Frauen lag der Anteil mit 32 Prozent noch etwas höher als bei Männern mit 25 Prozent.“ Unter Höhenbedingungen verschlechtert sich laut Huppert bei uns allen das Gleichgewicht – bei allen Studienteilnehmenden mit visueller Höhenintoleranz beobachteten die Forschenden eine unterschiedlich stark ausgeprägte Standunsicherheit in der Höhe, bei vier bis sechs Prozent eine klinische Form der Höhenangst (Akrophobie).

Am häufigsten tritt Höhenschwindel den Forschenden zufolge im zweiten Lebensjahrzehnt auf (30 Prozent). Zudem beobachteten sie zwei unterschiedliche Verlaufsformen des Höhenschwindels: Setzt er im Kindesalter ein, bildet er sich meist spontan zurück; beginnt er im Erwachsenenalter, verläuft er mehrheitlich chronisch. Die psychiatrische Evaluation ergab, dass sich die Symptomatik bei 22,5 Prozent der Betroffenen gelegentlich bis hin zu Panikattacken verschlechtert. Unter allen Studienteilnehmenden wurden zusätzliche Angsterkrankungen (16,7 Prozent) sowie depressive Syndrome (26,1 Prozent) verzeichnet.

Einschränkungen auch im Alltagsleben

Die Studie ergab auch: Knapp die Hälfte der Betroffenen empfinden den Höhenschwindel als psychosoziale Einschränkung, 22 Prozent der Befragten sogar in erheblicher Weise. Mehr als die Hälfte der Betroffenen vermeidet Situationen, die eine Schwindelattacke auslösen könnten – und empfinden dies als zum Teil beträchtliche Einschränkung ihrer täglichen Aktivitäten und Minderung ihrer Lebensqualität.

Ihre Erkenntnisse stützen Huppert und ihr Team auf die Beantwortung eines speziell entwickelten Fragebogens zu Symptomatik, Lebensqualität und psychiatrischen/psychosomatischen Begleiterkrankungen, zu Spontanverlauf und Verlauf unter therapeutischer Begleitung. Ein Teil der Betroffenen wurde zudem einer neurootologischen Untersuchung der Gleichgewichtsorgane unterzogen. Dabei erfolgte eine Analyse von Augen- und Kopfbewegungen mittels eines speziellen, mit Infrarotkameras ausgestatteten Brillensystems, während die Untersuchten realen Höhenreizen ausgesetzt waren. Eine virtuelle Höhenreizung diente dazu, einzelne Einflussgrößen getrennt analysieren und bestimmen zu können, welche Parameter die klinischen Symptome am stärksten hervorrufen.

Eine enge Zusammenarbeit ergab sich dabei u. a. mit der Medizinischen Universität Graz, dem Institut für medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie (IBE) an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München und der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg.

Ablenkung und Verhaltensregeln können helfen

Eine medikamentöse Therapie oder standardisierte Behandlung gegen den Höhenschwindel gibt es bislang nicht; auch dazu soll die DSGZ-Studie beitragen. Was den meisten Betroffenen hilft: Aufklärung und Darstellung der Symptomatik sowie wirkungsvolle Verhaltensempfehlungen. „Die eigene Haltungsstabilität lässt sich verbessern, indem man unbewegte Objekte im nahen Umfeld anschaut, schnelle Kopfbewegungen und extreme Kopfhaltungen, wie beispielsweise beim Blick nach oben oder unten, vermeidet oder indem man Atemübungen durchführt und versucht, sich von der eigenen Angst und Unsicherheit abzulenken“, erklärt Huppert.

Deutsches Schwindel- und Gleichgewichtszentrum (DSGZ)

Das Deutsche Schwindel- und Gleichgewichtszentrum (DSGZ) wurde 2009 als integriertes Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) für Schwindel, Gleichgewichts- und Augenbewegungsstörungen ins Leben gerufen. Ziel der Einrichtung ist es, die Patientenversorgung über eine fachübergreifende Kooperation zu stärken sowie einheitliche Standards in Diagnostik und Therapie zu entwickeln.

Das DSGZ wurde zehn Jahre vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit insgesamt fast 40 Millionen Euro gefördert. Seit November 2019 ist das DSGZ ein selbstständiges interdisziplinäres Zentrum am Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München.

Mehr Informationen zu den Integrierten Forschungs- und Behandlungszentren lesen Sie hier.

Ansprechpartnerin:
Prof. Dr. med. Doreen Huppert
Deutsches Schwindel- und Gleichgewichtszentrum (DSGZ)
Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München
Campus Großhadern
Marchioninistraße 15
81377 München
089 4400-72380/76969
doreen.huppert@med.uni-muenchen.de