Januar 2022

| Newsletter 105

Wenn Fehler im Erbgut nicht repariert werden können

Der Verbund ADDRess erforscht Erkrankungen, die auf Fehler bei der Reparatur unseres Erbguts zurückzuführen sind. Ziel ist es, die Diagnose, Versorgung und Therapie der oft schwer betroffenen Patientinnen und Patienten zu verbessern.

Computerdarstellung des menschlichen Erbguts

Durch Umwelteinflüsse, aber auch durch zellinterne Prozesse entstehen immer wieder Fehler im Erbgut. Ein körpereigener Mechanismus hilft, diese zu erkennen und zu reparieren. Ist dieser Mechanismus selbst fehlerhaft, können schwere Erkrankungen entstehen.

peterschreiber.media/Adobe Stock

Fehler in unserem Erbgut entstehen naturgemäß immer wieder, doch sorgen zelleigene Mechanismen in der Regel dafür, dass sie erkannt und repariert werden. Sind diese Reparaturmechanismen gestört, können schwerwiegende Erkrankungen entstehen. Die Fanconi-Anämie (FA) oder die Ataxia teleangiectatica (AT) gehören zu diesen Erkrankungen. Die betroffenen Personen weisen bereits als Kinder ein deutlich erhöhtes Krebsrisiko auf.

Mit welcher Wahrscheinlichkeit diese Kinder an welchen Tumoren erkranken werden, lässt sich aufgrund der Ergebnisse einer aktuellen Registerstudie nun präziser vorhersagen. „Das hilft uns dabei, die betroffenen Familien besser beraten zu können. Wir können jetzt die notwendigen Untersuchungen individueller an das jeweilige Risiko des Kindes anpassen – und den ohnehin schon sehr belasteten Familien zusätzliche Untersuchungen ersparen“, erläutert Professor Christian Peter Kratz, Direktor der Klinik für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie und Leiter des Zentrums für Seltene Erkrankungen der Medizinischen Hochschule Hannover.

Die Ergebnisse der Registerstudie sind jedoch nicht nur für die jungen Patientinnen und Patienten sowie für das sie behandelnde medizinische Fachpersonal von Bedeutung. Sie werfen auch für die Forschung neue Fragen auf, deren Beantwortung wichtige Erkenntnisse zu neuen Diagnose- und Therapiemöglichkeiten liefern könnten.

Fanconi-Anämie (FA) und Ataxia teleangiectatica (AT)

Sowohl bei der Fanconi-Anämie (FA) als auch bei der Ataxia teleangiectatica (AT) führen genetische Veränderungen dazu, dass bei der körpereigenen Reparatur des Erbguts Fehler auftreten. Beide Erkrankungen zählen zu den Krebsprädispositionssyndromen – einer Gruppe von angeborenen Erkrankungen, die die Entstehung von Krebs begünstigen. Kennzeichnend für die FA ist ein erhöhtes Risiko für Knochenmarksversagen und die Entwicklung von Leukämien und Tumoren. Die AT äußert sich im frühen Kindesalter durch neurologische Symptome: Die Betroffenen leiden unter einem zunehmenden Verlust der Muskelkontrolle sowie Gleichgewichtsstörungen. Sie haben zudem eine Immunschwäche sowie ein erhöhtes Leukämie- und Lymphomrisiko.

Beide Erkrankungen gehören zu den Seltenen Erkrankungen, die dadurch definiert werden, dass nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen daran erkranken.

Verbund erforscht Erkrankungen aufgrund gestörter DNA-Reparaturprozesse

Der Kinderonkologe Kratz koordiniert den Forschungsverbund ADDRess, der seit 2019 durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird. Neun Arbeitsgruppen haben sich in diesem Verbund zusammengeschlossen, um die medizinische und psychosoziale Versorgung, die Krebsfrüherkennung und die Diagnostik sowie die Therapie bei Menschen mit gestörter DNA-Reparatur zu verbessern. Unter enger Einbindung von Patientenvertretungen arbeiten Forschende und Mediziner unterschiedlicher Fachrichtungen gemeinsam an diesen Zielen. Enge Kooperationen bestehen zu weiteren Forschungsgruppen in Europa, Kanada, den USA und Brasilien.

„Wir benötigen dringend neue Behandlungsstrategien für Patientinnen und Patienten, bei denen die Reparatur des Erbguts gestört ist. Denn sie haben nicht nur ein deutlich höheres Risiko, an Krebs zu erkranken – die herkömmlichen Therapien sind bei ihnen auch weniger erfolgreich und verursachen vermehrt Nebenwirkungen und Unverträglichkeiten“, so Kratz. Grund dafür ist, dass diese Therapien – zumeist Bestrahlungen und Chemotherapien – das Erbgut angreifen und beschädigen können. Ohne einen funktionierenden Reparaturmechanismus bleiben diese Schäden dann dauerhaft bestehen. „Zudem können wir durch Forschung für Menschen mit diesen Erkrankungen auch generelle Mechanismen der Krebsentstehung beleuchten.“

Erforschung Seltener Erkrankungen 

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert zur Erforschung Seltener Erkrankungen bereits seit 2003 deutschlandweit vernetzte Forschungsgruppen. In der nunmehr vierten Förderphase (2019 bis 2022) werden elf Forschungsverbünde, darunter auch ADDRess, mit einer Gesamtsumme von 33 Millionen Euro gefördert.
Mehr Informationen über die einzelnen Verbünde und ihre Forschungsschwerpunkte hier.

Große Register für belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse

Erschwert wird die Forschung zu diesen Erkrankungen dadurch, dass sie so selten sind. Etwa 30 Patientinnen und Patienten mit FA werden pro Jahr in Deutschland diagnostiziert. AT tritt vermutlich noch seltener auf, genaue Daten liegen zu dieser Erkrankung nicht vor. Um belastbare Aussagen treffen zu können, sind allerdings hohe Fallzahlen nötig. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nutzten für ihre aktuelle Registerstudie daher Daten aus den vergangenen 50 Jahren und konnten so 581 Patientinnen und Patienten in ihre Analysen einbeziehen. Dafür arbeiteten sie eng mit Kolleginnen und Kollegen in Referenzlaboren an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg (Professor Detlev Schindler und Dr. Reinhard Kalb) und der Medizinischen Hochschule Hannover (Dr. Thilo Dörk-Bousset) zusammen. Die identifizierten Personen wurden in einem verschlüsselten Verfahren mit dem Kinderkrebsregister an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (Dr. Friederike Erdmann) abgeglichen, um Informationen über aufgetretene Krebserkrankungen zu erhalten. Im Kinderkrebsregister werden seit 1980 alle Krebsfälle im Kindesalter in Deutschland registriert.

Der Forschungsverbund ADDRess arbeitet zudem eng mit dem Krebsprädispositionsregister zusammen, das durch die Kinderkrebsstiftung gefördert wird. Über die Internetseite des Registers (www.krebs-praedisposition.de) können sich betroffene Familien und behandelnde Ärztinnen und Ärzte informieren und aktiv in die Forschung einbringen.

Wichtige Erkenntnisse auch zum Li-Fraumeni-Syndrom

Einen weiteren Erfolg erzielten die Forschenden des ADDRess-Verbundes zum Li-Fraumeni-Syndrom. Auch diese Erkrankung zählt zu den Krebsprädispositionssyndromen und geht somit mit einem stark erhöhten Risiko einher, an Krebs zu erkranken. Verursacht wird die Erkrankung durch erbliche Veränderungen im TP53-Gen. TP53 ist ein sogenannter Tumorsuppressor, dessen Aufgabe es ist, die Tumorentstehung zu unterdrücken. Durch den vermehrten Einsatz von genetischen Analysemethoden in der modernen Medizin wurde in den letzten Jahren zunehmend deutlich, dass TP53-Veränderungen auch bei Krebspatientinnen und Krebspatienten gefunden werden können, die nicht die etablierten klinischen Kriterien eines Li-Fraumeni-Syndroms erfüllen. Zudem sind Vorhersagen zum Krankheitsverlauf bislang unmöglich und es fehlte eine Klassifizierung, die das breite Erkrankungsspektrum berücksichtigt.

Das Team um Kratz erarbeitete eine neue Li-Fraumeni-Spektrum-Klassifikation, die das komplette klinische Spektrum der Erkrankung berücksichtigt. Anschließend analysierte das Team die Daten von 3.034 Menschen, bei denen Veränderungen im TP53-Gen vorlagen. Dabei fanden sie signifikante Unterschiede des TP53-Variantenspektrums zwischen Patienten und Patientinnen mit schweren und milden Erkrankungsverläufen. Die Ergebnisse könnten zukünftig nicht nur die individuelle Beratung betroffener Familien deutlich verbessern, sondern auch als Modell für die Charakterisierung weiterer genetischer Erkrankungen dienen, die mit einem erhöhten Krebsrisiko einhergehen.

Originalpublikationen:
Kratz, C. P. et al. (2021). Analysis of the Li-Fraumeni Spectrum Based on an International Germline TP53 Variant Data Set - An International Agency for Research on Cancer TP53 Database Analysis. JAMA Oncol 2021; Oct 28; Online ahead of print. DOI: 10.1001/jamaoncol.2021.4398

Dutzmann, C. M. et al. (2021). Cancer in Children With Fanconi Anemia and Ataxia-Telangiectasia – A Nationwide Register-Based Cohort Study in Germany. J Clin Oncol 2021; Oct 1; JCO2101495. Online ahead of print. DOI: 10.1200/JCO.21.01495

Ansprechpartner:
Prof. Dr. med. Christian Kratz
Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin
Klinik für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie
Medizinische Hochschule Hannover
OE 6780
Carl-Neuberg-Straße 1
30625 Hannover
0511 532-6711
kratz.christian@mh-hannover.de
www.mhh.de