Forschung gestalten

Systemmedizin

Aus den riesigen Datenmengen, die Forschung und Klinik immer schneller produzieren, gewinnt die Systemmedizin mithilfe ausgeklügelter Informationstechnologie neue Erkenntnisse über die Entstehung von Krankheiten und bessere Therapien.

Jörg Müller, Hamburg

Großangelegte, oft automatisierte Versuchsreihen liefern immer mehr Daten für die systemmedizinische Analyse.

Jörg Müller, Hamburg

Ob Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs – viele Krankheiten haben eines gemeinsam: Entstehung, Verlauf und Therapieerfolg hängen von zahlreichen Faktoren ab. Dazu gehören die genetischen Voraussetzungen, der persönliche Lebensstil und die Umwelteinflüsse. Unser Wissen über die Rolle dieser Faktoren wächst dank der modernen Forschung rasant an.

Um Gesundheit bestmöglich zu fördern und Krankheiten gezielter bekämpfen zu können, wollen Medizinerinnen und Mediziner das komplexe Zusammenspiel der unterschiedlichen Faktoren besser verstehen. Dieser Herausforderung widmet sich die Systemmedizin. Sie fügt die vielen Einzelerkenntnisse zu einem Gesamtbild zusammen, das die Dynamik der Lebens- und Krankheitsprozesse in ihrer Komplexität mithilfe mathematischer Modelle aufzeigen soll. Dabei nutzt die Systemmedizin die Methoden der Systembiologie. Weitere Information dazu finden Sie im Bereich „Grundlagen“ unter Systembiologie.

„Mathematische Modelle können einen Fortschritt erbringen wie einst das Mikroskop.“

Professorin Ursula Klingmüller, Deutsches Krebsforschungszentrum, Heidelberg

„Data-Mining“ – Schatzsuche im Datenberg

Vollautomatische DNA-Lesemaschinen entschlüsseln heute ganze Genome – schnell und präzise. Und die Aktivität tausender Gene wird in einem einzigen Schritt bestimmt. In der Klinik gehören moderne Laboranalysen und bildgebende Verfahren inzwischen zum Alltag. Dabei entstehen immense Datenberge, für deren Analyse leistungsstarke Computer und intelligente Algorithmen benötigt werden. So lassen sich Unmengen von Einzelinformationen aus Grundlagen- und klinischer Forschung miteinander verknüpfen. Die Systemmedizin fördert dabei neue, krankheitsrelevante Erkenntnisse zu Tage – im Fachjargon spricht man von „Data-Mining“.

Krankheiten früher erkennen und spezifischer behandeln

Durch „Data-Mining“ entdeckten Forschende biochemische Signaturen, die für bestimmte Arten von Krebszellen charakteristisch sind, wie beispielsweise beim Brustkrebs oder beim Neuroblastom, einer Krebsart, die vor allem im Kindesalter auftritt. Diese molekularen Fingerabdrücke können krankhafte Zellveränderungen bereits in einem sehr frühen Stadium verraten. Das kann helfen, Leben zu retten. Denn je eher solche Veränderungen entdeckt werden, desto größer sind die Heilungschancen.

„Das genetische Profil jedes Tumors sieht anders aus – auch dann, wenn es sich um die vermeintlich gleiche Erkrankung handelt. Dieses Wissen gilt es zu nutzen.“

Dr. Marie-Laure Yaspo, Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik, Berlin

Abhängig von der Art der Erkrankung zeigen Medikamente bei nur 30 bis 70 Prozent der Patientinnen und Patienten die gewünschte Wirkung. Die gleiche Diagnose – die gleiche Therapie – doch unterschiedliche Erfolge? Der Grund liegt auf der Hand: Jeder Mensch ist einzigartig. Die Systemmedizin hilft, die individuell bestmögliche Therapie zu finden. Sie ist somit ein wichtiger Wegbereiter der Individualisierten Medizin.

So wollen Forscherinnen und Forscher auf der Grundlage systemmedizinischer Erkenntnisse beispielsweise ein virtuelles Herz-Kreislauf-Modell entwickeln. Dieses soll bei herzinsuffizienten Patientinnen und Patienten den optimalen Zeitpunkt für eine Herzklappen-Operation und die bestmögliche medikamentöse Behandlung bestimmen. Die individualisierten Therapie-Schemata, die das Computer-Modell vorschlägt, basieren auf zahlreichen physiologischen und klinischen Datensätzen.

Bessere Wirkstoffe schneller finden

Die detaillierte biomedizinische Charakterisierung von Erkrankungen liefert auch wertvolle Hinweise auf mögliche Zielmoleküle für neue Wirkstoffe. Computer-Simulationen, die auf dem Wissen über die Dynamik der Lebensprozesse basieren, helfen die Wirkung potenzieller Medikamente vorherzusagen. So kann die Systemmedizin dazu beitragen, die Entwicklungszeiten für effektivere und nebenwirkungsärmere Arzneimittel künftig zu verkürzen.

Förderkonzept zur Systemmedizin

Mit dem Forschungs- und Förderkonzept „e:Med – Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin“ (e:Med) fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung die Etablierung dieser noch jungen Disziplin in Deutschland. Seit Ende 2012 stellt das Forschungsministerium dafür – zunächst für acht Jahre – 200 Millionen Euro bereit.

Die Systemmedizin bietet aber nicht nur ein großes medizinisches Potenzial. Sie wirft auch gesellschaftliche Fragen auf. Systemorientierte Ansätze basieren auf großen Mengen von Patientendaten. Wie wird dabei beispielsweise der Datenschutz gewährleistet? Um die richtigen Antworten geben zu können, finanziert das BMBF im Förderschwerpunkt „Ethische, rechtliche und soziale Aspekte der modernen Lebenswissenschaften“ auch Forschungsprojekte zu gesellschaftlichen Aspekten der Systemmedizin.