Systemmedizin

Krankheitsmechanismen besser verstehen, um daraus individuelle Vorbeugungs- und Behandlungsmöglichkeiten abzuleiten – das sind die Ziele der Systemmedizin. Sie ist eine wichtige Wegbereiterin der personalisierten Medizin.

Ein Automat füllt Proben in mehrere hundert kleine Reaktionsgefäße.

Jeden Tag wird das „System Mensch“ auf vielfältigste Weise auf unterschiedlichen Ebenen bestimmt – von den Molekülen über die Zellen, das Mikrobiom, die Gewebe und die Organe bis hin zur Psyche – und zudem durch die Umwelt und das soziale Umfeld beeinflusst. Diese Einflüsse von Genetik und Umwelt und die Reaktionen des Körpers darauf zu sammeln, zu modellieren und zu analysieren, ist Aufgabe der Systemmedizin. Sie verknüpft dabei Daten aus Genom, Proteom, Metabolom und Mikrobiom mit klinischen Befunden und Bildgebungsdaten, um die verschiedenartigen Abläufe in unseren Zellen und Organen und die darauf einwirkenden, individuellen Einflüsse und Störungen als Ganzes zu verstehen. Dafür arbeiten Forschende über Fachgrenzen hinweg zusammen.

Die Genom-, Proteom-, Metabolom- und Mikrobiomforschung beschäftigt sich mit der Entschlüsselung der Erbinformation (Genom), der Eiweiße bzw. Proteine (Proteom), der Stoffwechselprodukte (Metabolom) und den Mikroorganismen, die im und auf dem menschlichen Körper leben. Die Forschung geht mit der Entwicklung von Hochdurchsatztechnologien einher, bei denen vor allem Robotik und rechnergestützte Verfahren Forschende in die Lage versetzen, riesige Mengen von Proben in immer kürzerer Zeit zu untersuchen.

Entwicklung neuer Methoden in der Gesundheitsforschung vorantreiben

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) wird die Systemmedizin und die dazu notwendigen Wissenschaftsentwicklungen sowohl innerhalb Deutschlands als auch in internationaler Zusammenarbeit weiter vorantreiben. Neue Technologien sollen Forscherinnen und Forschern zum Beispiel helfen, die molekularen Lebensprozesse in Zellen und Organismen noch besser zu verstehen. Auch die Medizininformatik muss Lösungen für die Verknüpfung von Daten aus der klinischen Behandlung mit Daten der biomedizinischen Forschung entwickeln. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ganz Deutschland benötigen einen verlässlichen Zugang zu zukunftsweisenden „Omics“-Technologien und hochinnovativen Analyseverfahren.

„Omics“-Technologien hat sich in Deutschland als Sammelbegriff für die Forschungsdisziplinen Genomik, Proteomik, Metabolomik oder Mikrobiomik etabliert, die im Englischen auf „-omics“ enden.

Krankheiten früher erkennen und spezifischer behandeln

Der systemmedizinische Forschungsansatz findet beispielsweise in der Krebsforschung Anwendung. Durch die Analyse umfangreicher „Omics“-Daten entdeckten Forschende biochemische Signaturen, die für bestimmte Arten von Krebszellen charakteristisch sind, wie beispielsweise beim Brustkrebs oder beim Neuroblastom, einer Krebsart, die vor allem im Kindesalter auftritt. Diese molekularen Fingerabdrücke können krankhafte Zellveränderungen bereits in einem sehr frühen Stadium verraten. Das kann helfen, Leben zu retten. Denn je eher solche Veränderungen entdeckt werden, desto größer sind die Heilungschancen.

Auch zur Erforschung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen trägt die Systemmedizin bei. So wollen Forscherinnen und Forscher auf der Grundlage systemmedizinischer Erkenntnisse beispielsweise ein virtuelles Herz-Kreislauf-Modell entwickeln. Dieses soll bei herzinsuffizienten Patientinnen und Patienten den optimalen Zeitpunkt für eine Herzklappen-Operation und die bestmögliche medikamentöse Behandlung bestimmen. Die individualisierten Therapie-Schemata, die das Computer-Modell vorschlägt, basieren auf zahlreichen physiologischen und klinischen Datensätzen.

„Das genetische Profil jedes Tumors sieht anders aus – auch dann, wenn es sich um die vermeintlich gleiche Erkrankung handelt. Dieses Wissen gilt es zu nutzen.“
 

Dr. Marie-Laure Yaspo, Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik, Berlin

Individuelle Therapien und bessere Wirkstoffe

Abhängig von der Art der Erkrankung zeigen Medikamente bei nur 30 bis 70 Prozent der Patientinnen und Patienten die gewünschte Wirkung. Die gleiche Diagnose – die gleiche Therapie – doch unterschiedliche Erfolge? Der Grund liegt auf der Hand: Jeder Mensch ist einzigartig. Die Systemmedizin hilft, die individuell bestmögliche Therapie zu finden. Sie ist somit ein wichtiger Wegbereiter der personalisierten Medizin.

Die detaillierte biomedizinische Charakterisierung von Erkrankungen liefert auch wertvolle Hinweise auf mögliche Zielmoleküle für neue Wirkstoffe. Computer-Simulationen, die auf dem Wissen über die Dynamik der Lebensprozesse basieren, helfen die Wirkung potenzieller Medikamente vorherzusagen. So kann die Systemmedizin dazu beitragen, die Entwicklungszeiten für effektivere und nebenwirkungsärmere Arzneimittel künftig zu verkürzen.

Förderkonzept zur Systemmedizin

Mit dem Forschungs- und Förderkonzept „e:Med – Maßnahmen zur Etablierung der Systemmedizin“ (e:Med) fördert das BMBF die Etablierung dieser noch jungen Disziplin in Deutschland. Seit 2013 stellt das Forschungsministerium dafür rund 340 Millionen Euro bereit.

Die Systemmedizin bietet aber nicht nur ein großes medizinisches Potenzial. Sie wirft auch gesellschaftliche Fragen auf. Systemmedizinische Forschung basiert auf großen Mengen von Patientendaten. Neben dem großen medizinischen Potenzial dieses Ansatzes sind daher auch die Themen Datenschutz und gesellschaftliche Aspekte von besonderer Bedeutung. Wie wird beispielsweise der Datenschutz gewährleistet? Um hier die richtigen Antworten geben zu können, finanziert das BMBF im Förderschwerpunkt „Ethische, rechtliche und soziale Aspekte der modernen Lebenswissenschaften“ auch Forschungsprojekte zu gesellschaftlichen Aspekten der Systemmedizin.